Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
rühren. Parthus’ Worte banden ihn fester als jedes Seil. Er zitterte an allen Gliedern. Im Geiste sah er Keslas goldenes Haar, ihr spöttisches Lächeln, die Art, wie sie eine Hüfte nach außen drehte, wenn sie einen Scherz machte, ihre Hand, die sich so weich in die seine schmiegte. Eine dicke Träne lief ihm über die Wange, tief in seinem Inneren zersprang etwas in tausend spitze Scherben, und seine Stimme flüsterte über die Wasser von Oo’schal hinweg ihren Namen: »Kesla …«
11
Die Sonne stand im Zenith, als Kesla vor der langsameren Karawane die Anhöhe hinaufeilte. Sie wollte den Alkazar als Erste erblicken, um für einen Moment ungestört das Wiedersehen zu feiern. Sie warf den Seidenschal ab, den sie vor dem Gesicht trug, und streifte die Kapuze ihres Wüstenumhangs nach hinten.
Eine halbe Meile vor ihr ragte der rote Sandsteinfelsen senkrecht aus der Wüste auf, ein einsamer Koloss, ein riesiges Schiff im Sandmeer. Die glatten Wände leuchteten im Sonnenlicht, die eingebetteten Silikatkristalle funkelten wie Diamanten. Man brauchte schon scharfe Augen, um zu erkennen, dass sich im Inneren der blank gescheuerten Windskulptur eine Festung verbarg. Doch Kesla war der riesige Felsen so vertraut wie ihr eigenes Gesicht. Sie hatte nie eine andere Heimat gekannt, vor ihr konnte der Alkazar seine Geheimnisse weder im Stein noch hinter Schatten verbergen. Bereits von der Düne aus entdeckte sie die schmalen Ritzen und Spalten hoch oben in den Wänden, hinter denen sich Fenster und Gucklöcher versteckten, und sah im Geiste die Wachposten, die jeden Fremden schon von weitem bemerkten, zu sich herüberstarren.
Sie schwenkte den Arm, um die unsichtbaren Wächter zu grüßen, doch keine Antwort kam, nicht einmal das sonst übliche Aufblitzen eines Signalspiegels. Verwirrt ließ Kesla den Arm wieder sinken. Schamane Parthus hatte im Morgengrauen zwei Sandläufer vorausgeschickt, um Meister Belgan von ihrer Ankunft zu benachrichtigen. Die beiden müssten einen Vierteltag vor ihnen eingetroffen sein.
Seufzend schaute die junge Meuchlerin über die Schulter. Ihre Gefährten stapften eben die letzten Serpentinen herauf. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Seit der Alkazar in Sicht war, konnte sie ihre Ungeduld kaum noch zügeln. Sie hatte ihre Freunde und Wohltäter so lange nicht mehr gesehen: Schargill, die rundliche Wirtschafterin, die Kesla zur Küchenmagd ausgebildet hatte; Humpf, den Stallmeister mit den langen Ohren, und seine Herde störrischer Malluken; und Crannus, den Giftmischermeister, der die schmutzigsten Witze erzählen konnte. Doch am meisten hatte sie Meister Belgan vermisst, ihren Lehrer, Ratgeber und Beichtvater. Er ersetzte ihr in vieler Hinsicht den Vater, den sie nie gekannt hatte.
Der Gedanke machte sie traurig. Sie starrte in die weite Wüste hinaus. Woher war sie gekommen? Wo in dieser Landschaft aus Wind und Sand war ihre wahre Heimat? Ihr Blick wanderte zurück zum großen Felsen des Alkazars. Sie kannte die Antwort. Ihre Heimat stand dort.
Sie seufzte noch einmal und wandte sich der Karawane zu. Die Stammesleute und ihre Gefährten hatten den Dünenkamm fast erreicht. Joach trat als Erster zu ihr. Die Felsen und Sandsteinterrassen des Alkazars zogen sofort seinen Blick auf sich.
»Das ist ja eine riesige Burg«, staunte er und reckte den Hals, um besser sehen zu können.
Sie nickte und lächelte scheu. »Sie beherbergt mehr als vierhundert Lehrlinge, Gesellen und Gildemeister.«
»Man sieht gar nicht, dass dort jemand wohnt.«
»So soll es auch sein. Als die Festung vor fünfhundert Jahren aus dem Fels gehauen wurde, war die Gilde kurz zuvor von Burg Drakken geflohen, die im südlichen Alasea versunken war. Man suchte einen sicheren Ort, wo man vor neugierigen Augen und vor den gul’gothanischen Verfolgern geschützt war, eine wehrhafte Zitadelle, in der man sich neu formieren und die Meuchler Gilde wieder aufbauen konnte.«
»Ich verstehe«, murmelte Joach.
Kesla trat einen Schritt näher, aber Joach wich zurück. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie er förmlich in seinem Umhang versank. Den ganzen Tag über war er schon so abweisend, wollte sie nicht ansehen, antwortete nur in knappen Sätzen und hatte nie Zeit, mit ihr zu plaudern. Zwar gab er sich nicht mehr so schroff und feindselig wie nach dem Aufbruch von A’loatal, aber doch deutlich kühler als auf jenem traulichen Spaziergang unter den Wüstensternen.
»Joach …«, begann sie leise, ein
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