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Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung

Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung

Titel: Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Clemens
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prächtigen Baum zu und beobachtete dabei den Stamm mit den erleuchteten Öffnungen. Eigentlich hätte sie empört sein müssen, dass jemand ihren Geliebten so entweihte, aber beim Anblick des warmen gelben Scheins wurde ihr leichter ums Herz. Das tote Holz hatte noch ein Fünkchen Leben in sich. Ihre Schritte wurden unwillkürlich schneller.
    Die anderen folgten ihr.
    Als sie das gegenüberliegende Seeufer erreicht hatten, öffnete sich am Fuß des Baumes eine Tür. Ein Lichtstreifen fiel über den Boden, und vor ihnen stand ein Mann. Aus seiner Haltung sprach keine Drohung.
    »Wir warten schon lange auf dich«, sagte er mit rauer Stimme.
    Ni’lahn wurde langsamer, das Lied der Laute verklang. »Wer bist du?«
    Der Mann trat aus dem hellen Viereck. Er war groß und breitschultrig und trug ein schlichtes Gewand aus grobem Baumwollstoff. Früher war er sicher einmal sehr stark gewesen, doch nun war sein Haar grau, und er stützte sich auf einen hölzernen Krückstock. »Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Ni’lahn?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe keine …«
    Er winkte mit seinem Krückstock ab. »Ach, das spielt keine Rolle. Meine Augen lassen mich vielleicht im Stich, aber meine Ohren nicht. Ich habe die Stimme deiner Laute nicht vergessen, und das allein zählt. Aber wie könnte ich denn auch?« Zittrig hob er die Hand. »Habe ich doch mit meinen eigenen Fingern geholfen, diese Stimme zu formen.«
    Ni’lahn ging ein Licht auf. »Rodricko?«
    »Ach, dann hat mein Mädchen den einfachen Holzschnitzer also doch nicht vergessen!«
    Sie wollte auf ihn zueilen, hielt aber inne und betrachtete aufmerksam die scharfen Augen und die Adlernase über dem dichten grauen Schnurrbart. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war der Schnurrbart noch glänzend schwarz gewesen. Die letzten fünfzehn Winter hatten dem Mann hart zugesetzt. Dennoch war sie sicher, dass es tatsächlich ihr alter Freund war. Sie streckte die Laute seitlich von sich, damit sie nicht zerdrückt wurde, und umarmte ihn fest.
    Nach dieser stürmischen Begrüßung trat sie zurück. »Du bist die ganze Zeit hier auf den Höhen geblieben?«
    Er strich sich den Schnurrbart, und der Glanz in seinen Augen erlosch. Er löste den Blick von ihrer Laute und betrachtete den entstellten Wald. »Ja, mein Mädchen.«
    »Aber warum? Wie?« Ni’lahn wollte begreifen, was hier vorgegangen war, seit sie den Wald mit ihrer Laute verlassen hatte.
    Mikela trat vor. Sie hielt noch immer ihre beiden Schwerter in den Händen. Ni’lahn sah, dass auch Tyrus und Kral bewaffnet waren. »Ganz recht. Wie konntest du so lange unter den Grim überleben, ohne von ihnen aufgefressen zu werden?«
    Rodricko beäugte die Waffen. »Friede mit euch, ihr Reisenden. Steckt eure Schwerter in die Scheide, und tretet ein. Wenn ihr Geschichten hören wollt, die könnt ihr haben aber nicht hier draußen im kalten Schnee, sondern drinnen am warmen Feuer.«
    Ni’lahn drückte vorsichtig eines von Mikelas Schwertern nach unten. »Rodricko könnt ihr vertrauen. Er hat meine Laute geschnitzt. Er und seine Familie sind seit zahllosen Generationen Freunde der Nyphai. Sie gehören zu uns, so weit das für Menschen überhaupt möglich ist.«
    Mikela zögerte, nickte, steckte ihre Schwerter mit Schwung in die überkreuzten Scheiden auf ihrem Rücken und winkte den anderen, ihrem Beispiel zu folgen. Tyrus ließ sein Schwert aus mrylianischem Stahl verschwinden, und Kral steckte langsam die Axt wieder in den Gürtel. Merik hatte ohnehin keine Waffe angerührt und stand mit verschränkten Armen da. Mogwied versteckte sich in seinem Schatten.
    »Kommt herein«, drängte Rodricko noch einmal und hielt die Tür auf. »Wenn ihr die Treppe hinaufsteigt, findet ihr eine Stube.«
    Ni’lahn trat als Erste ehrfürchtig über die Schwelle ihres Heimatbaums. Als sie die Wendeltreppe nach oben stieg, tobte in ihrer Brust eine verwirrende Mischung verschiedenster Empfindungen. Der süßliche Duft nach Holzöl und Kampfer versetzte sie in Schwingungen, als wäre sie eine Lautensaite. Alte Erinnerungen wurden wach. Freude und Leid sangen im Chor. Der Staub der Straßen, auf denen sie in den vergangenen fünfzehn Wintern gewandert war, fiel von ihr ab. Wie von selbst hob sich ihre Hand, berührte die glatte Holzwand, suchte nach dem Waldlied im Herzen des großen Baumes. Aber sie spürte nichts. Der Baum war tot. Ihre Beine zitterten, doch der Griff der Laute schmiegte sich beruhigend in ihre andere Hand. In

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