Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
diesem Instrument wohnte jetzt der Geist ihres Baumes.
Ni’lahn ging weiter, die anderen folgten ihr, und plötzlich wusste sie, wohin der Weg führte. Die Nyphai wohnten nie im Inneren ihrer Bäume, sondern bauten sich Brücken und kleine Hütten zwischen den Ästen. Nur wer mit einem Baum verbunden war, hatte Zugang zum Inneren des sanften Riesen, und auch dann drang man nicht körperlich ein, sondern berührte lediglich seine Seele.
Sie warf einen Blick zurück. Nur einmal hatte sie ihren Baum so betreten wie jetzt. Ihr Blick fand Rodricko. Er nickte ihr aufmunternd zu.
Am Ende der Treppe öffnete sich eine geräumige Stube, die den ganzen Durchmesser des Stammes einnahm. In der Mitte erhob sich ein dicker Pfeiler, und ringsum standen dicht gedrängt die Möbel: Schränke, Stühle und Tische aus kräftig gemasertem dunklem Holz. Der Schnitzer hatte sich im Laufe der letzten fünfzehn Jahre ein gemütliches Heim geschaffen.
Ni’lahn beachtete all das nicht weiter. Ihr Blick richtete sich auf die Säule im Zentrum, das wahre Herz ihres Baumes. Sie umrundete sie langsam, bis sie eine Aushöhlung fand, und hielt ihre Laute daran. Sie passte genau hinein.
Rodricko trat zu ihr. »Hier ist sie zu Hause.«
Ni’lahn drehte sich um und warf einen kurzen Blick durch den Raum. »Wie ich sehe, hast auch du dich hier häuslich niedergelassen, im Inneren meines Baumes.« Ein leiser Vorwurf schwang in ihren Worten mit.
Er nickte mit einem traurigen Seufzer. »Wie ein Wurm, der sich durch einen Apfel frisst.«
Ni’lahn fasste seine Hand. »Es tut mir Leid … Ich wollte nicht unterstellen …«
»Nein, Mädchen. Es ist wider die Natur. Ich habe zu lange unter den Nyphai gelebt, um nicht auch so zu empfinden.« Er schaute auf seine Stiefel. »Aber nachdem du weggegangen warst, hat mich der Baum gerufen.«
»Wie das?«
Er schüttelte den Kopf. »Mit der Laute hatte ihn seine Seele verlassen, aber in seinen Wurzeln war noch Magik enthalten, genug, um einen Rest seines Geistes mit Leben zu erfüllen. Ich kam am gleichen Tag hierher, an dem du dich auf deine Reise machtest, und wollte mein Werkzeug holen, und da sprach der Baum zu mir nein, eigentlich sprach er nicht wirklich, aber ich spürte ihn im Herzen und im Kopf. Er war noch nicht mit mir fertig.«
»Das begreife ich nicht.«
Er seufzte. »Komm mit ans Feuer, dann werde ich dir alles erklären.« Er humpelte, auf seinen Krückstock gestützt, zu der hohen gemauerten Feuerstelle, die auf einer Seite in die Wand eingelassen war.
Ni’lahns Freunde hatten sich bereits davor versammelt. Ferndal lag fast in den Flammen, hatte alle viere von sich gestreckt und klopfte zufrieden mit dem Schwanz auf den Boden. Die anderen standen noch unsicher herum und taten so, als sähen sie die vielen bequemen Stühle nicht.
»Setzt euch«, forderte Rodricko sie auf. »Wozu hätte ich so viele Winter lang an diesen Stühlen geschnitzt, wenn ihr sie nun nicht benutzen wollt? Ruht euch aus. Neben dem Kamin steht warmer Holunderwein. Und hinterher wartet in den Zimmern im oberen Stockwerk für jeden ein bequemes Bett.«
Einer nach dem anderen nahm Platz. Der Wein wurde herumgereicht und hatte ihnen bald die Kälte aus den Knochen vertrieben.
Rodricko hatte aus einer kleinen Speisekammer Käse und einen Topf mit Kastanien geholt, um sie über dem Feuer zu rösten. »Ich habe versprochen, euch meine ganze Geschichte zu erzählen«, sagte er und schwenkte den Tiegel, dass die Kastanien knackten und zischten.
Mikela nickte. »Wie konntest du hier draußen überleben, wenn alles andere stirbt?«
Rodricko ließ sich leise ächzend auf einem der Stühle nieder. »Es ist eine lange Geschichte, also lasst mich so beginnen, wie es sich für eine gute Geschichte gehört am Anfang, mit Cäcilia.«
»Cäcilia?« fragte Ni’lahn erschrocken. So hatte einst die Älteste des Hains geheißen.
Mikela stellte ihren Becher ab. »Wer ist das?«
»Cäcilia ist die Hüterin des Wahren Tals«, erklärte Rodricko. »Die älteste Schwester der Nyphai. Sie war mit dem ältesten Baum des Haines verbunden, und als er von der Fäule befallen wurde und anfing, sich zu verkrümmen und zu verbiegen, litt sie mit ihm. Fieberträume und Wahnvorstellungen peinigten sie. So ging das drei Monde lang. Doch dann ich war überzeugt, das Ende sei nahe hatte sie eine Vision. Sie sah Lok’ai’hera in einem See aus rotem Feuer zu neuem Leben erwachen. Ein Feuer, aus Magik geboren. Daraufhin beauftragte sie mich, aus
Weitere Kostenlose Bücher