Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
und rannte hinter Ferndal her, so schnell sie konnte. Seine Witterung war wie ein deutlich markierter Pfad. Unermüdlich hetzten die beiden Wölfe durch den Wald und wateten durch Bäche und Wasserläufe, um eventuelle Verfolger zu verwirren, ständig darauf gefasst, dass sich ein nahender Grim Geist mit seinem Geheul verriete. Aber die Nacht blieb so still, als hielte sie den Atem an.
Nur einmal machten sie kurz Halt und teilten sich einen kleinen Hasen, den Ferndal erlegt hatte. In Wolfsgestalt genoss Mikela das Blut und das noch warme rohe Fleisch wie edlen Wein und zarten Rinderbraten. Trotz der Schrecken und Strapazen der langen Nacht durchströmte sie ein tiefes Glücksgefühl. Wie lange war es her, dass sie in eine andere Gestalt geschlüpft war und ein Leben in dieser Freiheit genossen hatte?
Ferndal musste ihre Begeisterung gespürt haben. Seine Augen strahlten sie über den blutigen Kadaver hinweg an. Ein Bild entstand: Ein einsamer Wolf kehrt müde und mit wund gelaufenen Pfoten nach langer nächtlicher Jagd zu seinem Rudel zurück.
Sie knurrte zustimmend. Es war wirklich wie eine Heimkehr.
Nachdem sie auch das letzte Knöchelchen aufgefressen und das Fell in einem Loch vergraben hatten, um keine Spuren ihrer Mahlzeit zu hinterlassen, fühlten sie sich gestärkt für das letzte Stück des langen Weges zurück zum Lager. Unter ihren Pfoten schwanden die Meilen nur so dahin. Sie fanden in ein gleichmäßig schnelles Tempo. Mikela hätte ewig so laufen können.
Doch als endlich hinter den fernen Bergen im Osten die Sonne aufging, begann sie immer wieder zu stolpern. Die scheinbar unerschöpfliche Energie ging endlich doch zur Neige. Auch Ferndal hinkte ein wenig und ließ hechelnd die Zunge aus dem Maul hängen, um sich abzukühlen.
Schließlich sahen sie vor sich einen Granitfelsen, der das Blätterdach durchstieß und zum Himmel emporstrebte. Die Spitze erstrahlte bereits im Licht der Morgensonne und kündigte einen neuen Tag an. Sie hatten den Steinkogel erreicht.
So kurz vor dem Ziel entwickelten die beiden Wölfe noch einmal neue Kräfte und rannten das letzte Stück des Weges um die Wette. Die Vorfreude auf das Wiedersehen mit den anderen war so groß, dass sie den stechenden Geruch in der Luft erst bemerkten, als sie nur noch wenige Schritte von der Lichtung entfernt waren.
Ferndal hielt abrupt an. Mikela kauerte sich neben ihn und spitzte die Ohren, aber aus dem Lager drang kein Laut. Selbst wenn alle noch schliefen, müsste es doch irgendwelche Lebenszeichen geben. Geduckt schlich sie weiter. Ferndal blieb neben ihr. Was hatte dieser merkwürdige Geruch zu bedeuten?
Vorsichtig schob sie den Kopf durch die letzten Büsche. Was sie sah, ließ sie erstarren.
Das Lager war verwüstet, Zelte und Schlafrollen zerfetzt. Die Pferde lagen tot in stinkenden Blutlachen. Ein Schwarm Aasvögel hob die blutigen Schnäbel, als sie näher trat, und wollte sie mit wütendem Kreischen verscheuchen, aber Mikela beachtete sie nicht.
Sie arbeitete sich weiter vor.
Der im Osten aufragende Steinkogel warf noch seinen Schatten über das Lager. In diesem Halbdunkel suchten Mikela und Ferndal nach Spuren von Überlebenden. War irgendjemand dem Überfall entkommen? Sie fand eine Axt. Der kurze Stiel war nass von Blut. Sie beschnupperte die Waffe. Der Geruch nach Zwerg war betäubend.
Sie richtete sich auf und befahl ihrem Körper, sich zurückzuverwandeln. Um weiter zu ermitteln, brauchte sie Hände. Zweimal an einem Tag die Gestalt zu wechseln, kostete Kraft. Dennoch zwang sie ihr Fleisch zu zerfließen und ließ das weiße Fell verschwinden. Als sie sich aufrichtete, trug sie wieder die vertraute Gestalt. Ohne Kleidung oder Fell spürte sie deutlich die Morgenkühle und schlang fröstelnd die Arme um sich.
»Sieh nach, ob du eine Spur von den anderen findest«, befahl sie Ferndal.
Der Wolf schlug einmal mit dem Schwanz und raste davon. Mikela sah ihm nach. Sie machte sich Sorgen um ihn. Seine Bilder wurden zunehmend seltener und primitiver. Er war in Gefahr, endgültig zum Wolf zu werden, fing bereits an, in dieser Gestalt zu erstarren. Wenn der Fluch nicht bald von ihm genommen wurde, gewann der Wolf für immer die Oberhand.
Auf dem Weg durch das Lager wurden solche Befürchtungen allerdings von der grauenvollen Realität in den Hintergrund gedrängt. Hinter dem Kadaver einer gescheckten Stute fand sie die Leiche einer der Dro Kriegerinnen aus Meister Tyrus’ Leibwache. Die blonden Zöpfe waren mit Blut und
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