Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Aber im Innersten wusste er, dass diese Möglichkeit nie wirklich bestanden hatte. Zum hundertsten Mal spannte er die Armmuskeln an und stemmte sich gegen seine Fesseln. Doch damit zog er die Knoten nur noch straffer. Und so fest, wie die Stricke seine Glieder banden, so fest war er auch an die anderen gebunden durch ein winziges Fünkchen Hoffnung.
Meister Tyrus, ehemaliger Piratenkönig und Prinz von Mryl, hatte ihn und seinen Bruder mit einer alten Prophezeiung zu sich gelockt. Darin wurde den Gestaltwandlerzwillingen die Befreiung von dem Fluch verheißen, der sie an ihre gegenwärtige Gestalt Mensch und Wolf band. Er hatte die Worte des Prinzen noch immer im Ohr: Zwei werden erstarrt kommen; einer wird als Ganzer gehen.
Allerdings war jetzt auch diese schwache Hoffnung dahin. Wie sollte der Fluch jemals von ihnen genommen werden, wenn Ferndal irgendwo im tiefen Wald umherirrte?
Als der Wagen wieder über eine harte Wurzel fuhr, rollte sich Mogwied auf die andere Seite. Jetzt hatte er den reglos hingestreckten Meister Tyrus vor sich. Der Mann gab kein Lebenszeichen. Er lag da wie ein toter Aal, sein Kopf rollte bei jeder Bewegung des Wagens kraftlos hin und her, Blut rann ihm aus Nase und Mund. Mogwied konnte nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob er noch atmete.
Aber war das nicht egal? Was hatten ihnen denn aller Kampfgeist, alle Fechtkünste letzten Endes eingebracht? Die drei Dro Kriegerinnen waren tot und die anderen vernichtend geschlagen. Die Menschen waren töricht. Mogwied hatte sich versteckt, solange der Kampf in seiner unmittelbaren Nähe tobte, danach war er zu einer der Frauenleichen gekrochen, hatte sich das Gesicht mit ihrem noch warmen Blut beschmiert und sich dann daneben gelegt und sich bewusstlos gestellt.
Beim Gedanken an diese List hörte er wieder die Schreie der sterbenden Pferde und das Grunzen und Kläffen der Zwergenräuber. Während seiner gespielten Ohnmacht hatte er unter halb geschlossenen Lidern beobachtet, wie sich Tyrus, gedeckt von seiner letzten Dro Leibwächterin, mit rasenden Schwüngen seines alten Familienschwerts verteidigte. Ein Todestanz, den keiner überlebte, der ihm zu nahe kam.
Am anderen Ende des Lagers war Kral mit Axt und Zähnen auf die Zwerge losgegangen. Noch die Erinnerung daran jagte Mogwied eisige Schauer über den Rücken. Der Gebirgler hatte nicht wie ein Krieger gekämpft, sondern wie ein wildes Tier. Allerdings mit unbestreitbarem Erfolg. Rings um den Hünen war alles voller toter Zwerge gewesen.
Als Mogwied das sah, hatte er sich sogar vorübergehend Hoffnungen auf den Sieg gemacht aber ein ganzes Rudel Wölfe bringt irgendwann auch den stärksten Bären zu Fall.
Kral ging als Erster zu Boden. Sechs kräftige Zwerge stürzten sich auf ihn. Auf der anderen Seite setzte Prinz Tyrus seinen blutigen Tanz fort. Krals Niederlage schien ihn noch unbesiegbarer zu machen. Seine Leibwächterinnen waren gefallen, aber er hatte nicht einmal einen Kratzer abbekommen. Unverändert beflügelten glühende Siegeshoffnungen seine machtvollen Schwerthiebe.
Doch dann zerriss ein Donnerschlag die Nacht, und hinter Tyrus tauchte ein Schattenmonster auf. Obwohl auf der ganzen Lichtung nur ein einziges Lagerfeuer brannte, konnte Mogwied die Gestalt des neuen Angreifers ohne weiteres erkennen.
Schwärzer als geöltes Pech zeichnete er sich vor dem Nachthimmel ab. Er stand aufrecht auf den krallenbewehrten Hinterbeinen und sah auf den ersten Blick wie eine Katze mit dichter Mähne aus. Doch dagegen sprachen die Schwingen, die ihm aus den muskulösen Schultern wuchsen.
In diesem Moment rief Tyrus seinen Namen: »Der Greif!«
Von Entsetzen gepackt, drückte Mogwied das Gesicht in den Schlamm. Als sie nordwärts zum Steinkogel zogen, waren ihnen Flüchtlinge auf dem Weg nach Süden begegnet, die von einem solchen Ungeheuer erzählten. Gerüchten zufolge war es so abscheulich, dass schon sein Anblick einen Menschen töten konnte. Mogwied ging kein Risiko ein, sondern kniff die Augen fest zu. Als Letztes sah er, wie Tyrus zurückwich und wie ihm dabei eine Silbermünze aus der Hand fiel.
Ein ohrenbetäubendes Gebrüll erschütterte die Lichtung, das Mogwied nicht nur den Verstand, sondern auch jeden eigenen Willen zu rauben drohte. Für einen Augenblick verlor er tatsächlich das Bewusstsein, so sehr überwältigte ihn der Schrei des Greifen. Als er wieder zu sich kam, war es im Lager so still wie in einem Grab. Er blinzelte vorsichtig in die Runde. Der Greif war
Weitere Kostenlose Bücher