Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Bruder und Schwester trennen sich, dachte er und sah genauer in den Spiegel. Um dem Gegenschlag des Großen Gul’gotha zu entgehen.
Der Magiker beugte sich tiefer über den Quecksilberteich und beobachtete, wie sich das winzige Windschiff südwärts entfernte. Er sah ihm nach, bis die Wirkung der Magik nachließ und das Bild wieder zu einem Blutfleck zerfloss. Mehrere Atemzüge später lehnte er sich zurück. Er hätte den Spiegel ein drittes Mal beschwören können, um herauszufinden, wohin genau Joach unterwegs war, aber er fürchtete, sich mit solchen Spielchen zu sehr zu verausgaben. Schließlich musste er noch einen weiteren aufwändigen Zauberbann sprechen.
Greschym erhob sich. Seine alten Knochen knirschten und knackten. Sein neuer Stab, seine Waffe, lehnte an der Höhlenwand. Er griff danach und hielt ihn in die Höhe. Geschnitten aus einem der vergifteten Steinbäume aus dem hiesigen Wald, war er gemasert wie eine Esche, obwohl er nicht mehr aus Holz bestand. Der Magiker strich mit den Fingern über die steinerne Oberfläche, die jahrhundertelang mit toxischer Asche und überschüssiger Magik getränkt worden war. Er spürte ein Kribbeln in den Fingern. Der steinerne Stab war durch verschiedene Bannsprüche so leicht geworden, als wäre er aus Holz, und er hatte dem alten Poi’holz Stab vieles voraus. Eigentlich müsste er Joach dankbar sein, dass er ihm das Original abgenommen hatte.
Der Magiker trat an den Höhleneingang und sah hinaus ins trübe Licht. »Hierher, Ruhack.«
Der Stumpfgnom hob das blutige Maul vom Kadaver des Rehs, wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen und warf einen sehnsüchtigen Blick auf das erst halb verspeiste Tier. Die nackte Gier schrie aus seiner Haltung, seinem Gesichtsausdruck, aber er hätte es nie gewagt, sich einem Befehl seines Herrn zu verweigern. Mit schlurfenden Schritten eilte er an Greschyms Seite.
Greschym zeichnete mit seinem Stab einen Kreis um sich und seinen Diener. Der letzte Bannspruch. Mit gesenkten Lidern sprach er den Portalzauber. Unter ihren Füßen wurde der Boden so schwarz wie Öl. Der Gnom war zu Tode erschrocken, aber Greschym wandte sich ungerührt nach Süden und kniff die Augen zusammen, als wollte er in die Ferne schauen. Dann nickte er zufrieden, hob den Stab und stieß ihn einmal auf den Boden. Zu ihren Füßen öffnete sich ein schwarzes Tor, und Gnom und Magiker stürzten in die Tiefe.
Als Greschym verschwand, brannte nur ein Wunsch in seinem Herzen: Rache.
ZWEITES BUCH
Burg Mryl
5
Lange vor Tagesanbruch kniete Mikela im Schutz der Dunkelheit blutüberströmt und mit schmerzenden Gliedern am Fluss. Ihr Wallach Grisson stand nach der wilden Flucht mit bebenden Flanken neben ihr, das goldene Fell triefte von Schweiß. Als er sich über den Fluss beugen wollte, um zu trinken, riss Mikela am Zügel. Wenn das müde Pferd so überhitzt vom kalten Wasser trank, würde es nur krank werden. Das Lager war noch meilenweit entfernt, sie durfte ihr Reittier nicht gefährden.
Sie legte den Kopf schief und lauschte auf Geräusche eventueller Verfolger. Irgendwo im dunklen Wald wurde ein Horn geblasen. Sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das war noch weit im Norden. Als sie aufstand, knackte links von ihr ein Zweig. Sie fuhr herum und zog lautlos ihre beiden Schwerter. Dann stand sie ganz still. Die Stahlklingen blitzten im Widerschein des Mondlichts, das auf den Fluss fiel.
Hinter einem Holundergebüsch leuchteten zwei bernsteingelbe Augen auf. Bilder erschienen vor ihrem geistigen Auge: Zwei müde Wölfe begegnen sich auf dem Weg, berühren einander mit der Nase, lecken sich gegenseitig die Ohren.
»Der Süßen Mutter sei Dank«, sagte sie und steckte die Schwerter wieder ein. Sie hatte die vertraute Geistberührung erkannt und antwortete in der stummen Sprache der Si’lura. Ich grüße dich, Ferndal.
Anstelle einer Antwort glitt eine schlanke Gestalt so lautlos durch das Gebüsch, dass kein einziges Blatt raschelte. Das Knacken vorhin war Absicht gewesen, eine Warnung, dass jemand sich näherte.
Der riesige Baumwolf trat aus dem Gebüsch, blieb aber im Dunkel des Waldrandes. Sein schwarzes Fell mit den goldenen und kupferroten Flecken verschmolz mit den Schatten, sodass er wie ein Gespenst erschien. Seine blanken Augen jedoch waren hart wie Granit. Mikela und Ferndal hatten diese Nacht bisher nur mit viel Glück überlebt.
»Ich hatte dich schon verloren gegeben, als wir angegriffen wurden«, sagte Mikela.
Ferndal
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