Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
Geheimnisse hatten eine eigene Macht.
Die Rückwand war an der Unterseite mit Scharnieren am Wagenboden befestigt. Nun flog sie krachend auf und wurde zur Rampe in die Freiheit. Der Schein der Lagerfeuer und der Fackeln blendete die Gefangenen. Kral kniff die Augen zusammen. Nach drei Tagen im Dunkeln tat die Helligkeit weh.
Eine derbe Stimme bellte in der allgemeinen Sprache: »Bewegt euren Hintern! Los! Raus mit euch!«
Der Sprecher war ein Zwergenoffizier im Rang eines Leutnants. Rechts und links von ihm standen zehn bis an die Zähne bewaffnete und von Harnischen geschützte Soldaten. Jeder von ihnen hielt eine Axt in der einen und einen Hammer mit Eisenkopf in der anderen Hand. Kral wusste aus Erfahrung, dass die gedrungenen Geschöpfe mit beiden Waffen gut umzugehen vermochten und mit beiden Händen eine geradezu übernatürliche Geschicklichkeit an den Tag legten.
Er stieg als Erster aus dem Wagen und die Rampe hinab. Mogwied und Ni’lahn nahmen den schlaffen Körper des Prinzen zwischen sich und folgten ihm.
Die Soldaten sahen dem kleinen Trupp argwöhnisch entgegen. Keiner steckte seine Waffe ein. Gerüchte von der Schlacht unter dem Steinkogel waren bis hierher gedrungen. Man wollte kein Risiko eingehen. Der Leutnant trat auf Ni’lahn und Mogwied zu, den Blick auf den bewusstlosen Prinzen gerichtet.
»Der ist nicht zu gebrauchen«, erklärte er. »Schneidet ihm die Kehle durch, und werft ihn den Schnüfflern zum Fraß vor.«
Kral entdeckte einen Zwinger, in dem etliche Tiere angekettet waren. Sie trugen Maulkörbe, hinter denen messerscharfe Zähne blitzten. Ihre Haut war bläulich wie die Dämmerung. Schnüffler. Die gefährlichsten Raubtiere dieser Wälder. Kral war selbst einmal in dieser Gestalt durch die Straßen von Port Raul gelaufen. Der Gedanke weckte in ihm wollüstige Erinnerungen an zartes Fleisch und heißes Blut, das in hohem Bogen aufspritzte …
Einer der Soldaten trat auf den Prinzen zu.
Ni’lahn wich mit Tyrus zurück. Mogwied ließ ihn los, sodass die kleine Nyphai unter seinem Gewicht fast zusammenbrach.
Kral trat zwischen den Soldaten und den Gefangenen. »Nein. Ihr werdet ihm kein Haar krümmen.«
Der Soldat hob seine Waffe. Kral starrte den Zwerg an; ein leises Knurren drang aus seiner Kehle. Er gab der Bestie in seinem Inneren ein wenig mehr Raum. Seine Augen wurden schärfer; seine Sinne erwachten. Er hörte die beiden Herzen des Zwergs schneller schlagen.
Der Soldat hielt die Waffe hoch und machte einen zögernden Schritt. Der Leutnant trat neben ihn, die eine Hand am Kurzschwert. »Die Tiere sind hungrig. Vielleicht sollten wir euch beide unseren Schoßtierchen vorwerfen!« Der Anführer der Zwergenwache musterte den hünenhaften Kral von Kopf bis Fuß. »Nein, besser doch nicht. Meine Männer und ich haben schon lange keinen Mann aus den Bergen mehr zu kosten bekommen. Du gibst sicher einen guten Braten für alle ab.«
Kral spürte, dass ihm die Kontrolle über die Bestie zu entgleiten drohte. Schon wuchsen ihm scharfe Krallen aus den Fingerspitzen. Er hielt die Fäuste geballt, um sie zu verbergen.
Der Leutnant zog sein Schwert. »Also, entscheide dich. Gib den Weg frei oder stirb!«
Der Mann aus den Bergen wich nicht von der Stelle. »Du wirst den Prinzen nicht anrühren.« Der Panther bäumte sich auf, unter Krals Lederkleidung sprießte das Fell. Seine Pupillen wurden zu schmalen Schlitzen.
Der Anführer der Zwergenwache stutzte. Er spürte, dass hier dunkle Kräfte am Werk waren. Erkannte der Zwerg, selbst von der Magik des Schwarzen Herzens berührt, etwa die verwandte Seele? Das Schwert blieb zum Schlag erhoben.
Eine neue Stimme ließ sich vernehmen. »Lass die Gefangenen in Ruhe, Leutnant!«
Alle blickten nach rechts. Ein weiterer Zwerg näherte sich. Er war breiter und kräftiger und etwa doppelt so schwer wie der nicht gerade schmächtige Leutnant. Er hatte einen Kopf wie eine Melone, und darauf saß eine schwarze Mütze mit einem silbernen Emblem. Kral erkannte die Rangabzeichen. Die Soldaten standen noch strammer. Kral konnte ihre Nervosität förmlich riechen.
Der Leutnant trat einen halben Schritt zurück. »Aber Hauptmann Brytton, der Mann, den die Frau stützt, ist für die Arbeit in den Bergwerken auf jeden Fall zu schwach. Ich wollte sein Fleisch nicht vergeuden. Die Schnüffler …«
»Schweig, Leutnant.« Der Hauptmann trat auf Ni’lahn zu. Sie zuckte zurück. »Der Gebirgler hat Recht. Diesem Mann darf kein Leid geschehen. Er trägt
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