Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
das Zeichen des Greifen.«
»Hauptmann?«
Hauptmann Brytton gab den Soldaten einen Wink. »Bringt sie in die Burgverliese. Alle miteinander.«
Kral war über die jähe Wendung verblüfft. Die Bestie in seinem Inneren beruhigte sich. Was ging hier vor? Er trat zu Ni’lahn, befreite sie von ihrer Last und nahm Tyrus auf seine starken Arme. Dann wurden sie alle um den Wagen herumgeführt.
Mogwied stockte der Atem, sein Blick wanderte nach oben.
Kral verstand ihn nur zu gut. Zweihundert Schritte vor ihnen war die Welt zu Ende. Dort ragte der schwarze Granitschild mit Namen Nordwall eine volle Meile hoch in den Himmel. Seine Oberfläche war so glatt, als hätte ein Steinmetz sie poliert, sodass sich die Lagerfeuer, der Mond und die Sterne darin spiegelten. Eine Felswand von dieser Höhe ging über den Verstand jedes Betrachters. Angeblich war an der oberen Kante die Luft so dünn, dass man das Bewusstsein verlor, wenn man sie atmete.
Der große Wall bildete die Nordgrenze der Westlichen Marken; dahinter lagen die Furchthöhen. Er hatte schon vor Anbeginn der Geschichte dort gestanden; das Land selbst hatte ihn aufgerichtet, um zu verhindern, dass die Grim Seuche jemals in die Wälder der Marken eindränge. Irgendwann war der Wall in den Besitz von Tyrus’ Volk, den Dro, gelangt, und sie hatten es übernommen, ihn zu bewachen.
»Burg Mryl«, sagte Ni’lahn leise und deutete nach Westen. Die Soldaten und der Hauptmann führten sie auf das Bauwerk zu.
Auch Kral hatte die Festung entdeckt und nickte. Sie zeichnete sich im Schein des Feuers mit ihren Türmen, Zinnen und Wehrmauern aus schwarzem Fließgestein so deutlich vor dem Himmel ab, dass sie kaum zu übersehen war.
Die Granitburg wuchs in zahllosen Terrassen am Nordwall empor, so nahtlos angefügt, dass man kaum sagen konnte, wo der Wall aufhörte und die Burg anfing. In der Tat waren die beiden auch nicht voneinander zu trennen. Burg Mryl war ein Teil des Walls, vom Land aus flüssigem Stein gebildet, um den Dro, die sich der Wall zu Hütern erkoren hatte, als Wohnstatt zu dienen.
Kral legte den Kopf in den Nacken. Hoch über dem Schein der Lagerfeuer leuchteten winzige Fensterchen sternengleich vor dem schwarzen Firmament. Dahinter lagen die unzähligen Säle und Gemächer im Inneren des Walles. Man erzählte sich, die ganze tausend Meilen lange Mauer sei so von Gängen und Geheimkabinetten durchzogen wie ein lebendes Wesen von Arterien und Venen.
Tatsächlich war der Wall kein totes Gestein, sondern wurde von einer wahren Flut von Elementarenergien durchströmt. Selbst in diesem Moment hörte Kral den Ruf der Magik und hätte aufgehen können in diesem Lied, hätte er es nur zugelassen. Es sang in jeder Faser seines Seins. In seinen Armen regte sich Tyrus, warf sich stöhnend hin und her. Auch der Prinz hörte den Ruf und wollte ihm antworten.
Kral drückte den Mann fester an seine Brust. Das Gebiet hier war immer reich an Felsmagik gewesen. Nicht nur die Dro, auch Krals Volk hatte in diesen Bergen gelebt, sein Blut war durchtränkt von dieser Magik, untrennbar mit ihr verbunden. Und obwohl seit Jahrhunderten keiner von seinen Stammesgenossen mehr hier gewesen war, hatte die Magik sein Volk nie ganz freigegeben. Sie war einer der Hauptgründe, warum die Stämme in den Zahnbergen geblieben waren: Sie wollten dem granitenen Geist des Landes für immer nahe sein.
Kral spürte, wie seine Wangen brannten. Sein Blick trübte sich. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Für einen winzigen Moment kehrte die Erinnerung zurück, und er sah sich so, wie er wirklich war. Die Finsternis wich aus seinem Blut. Er stolperte und blieb stehen. Ein Schrei drängte ihm auf die Lippen. Jähes Entsetzen ergriff ihn, Entsetzen über das, was er getan hatte, was aus ihm geworden war. Er war zutiefst betroffen. Dann wallte die dunkle Macht in seinem Herzen wieder auf und nährte sich von der ungezähmten Kraft, die es durchströmte. Zweifel und Schuldgefühle verblassten.
»Alles in Ordnung, Mann aus den Bergen?« fragte Ni’lahn und blieb zurück, bis sie wieder an seiner Seite war.
Kral schloss die Augen, tastete nach der Bestie in sich und vergewisserte sich, dass alles beim Alten war. »Mir geht es gut.«
Ni’lahn schien nicht restlos überzeugt, aber sie schwieg.
Man trieb die ganze Gruppe zum Haupteingang der Burg. Das aufgebrochene Tor stand nach Süden hin offen. Auf den Mauern über ihnen steckten auf Eisenspießen die Köpfe der ehemaligen Hüter der Burg.
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