Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
»Wir sind gekommen, um euch zu retten.«
»Wer?«
Mikela nickte zu den anderen hin, die jetzt auf sie zukamen. »Vielleicht erinnerst du dich an Merik. Ihr habt euch im Hafen von Port Raul kennen gelernt.«
»Einer von den Verbündeten der Hexe. Der mit den Brandwunden.«
»Die sind inzwischen verheilt«, sagte Merik, steckte sein Schwert in die Scheide und stellte seine beiden Verwandten vor.
Der Wolf trat zu Tyrus und beschnupperte ihn. Tyrus klopfte ihm die Schulter. »Schön, auch dich wieder zu sehen, Ferndal.« Dann wandte er sich den Zwillingen zu und verneigte sich leicht. »Willkommen in meinem Heim. Willkommen auf Burg Mryl.«
Mikela staunte. Der Mann war so nackt wie ein Säugling, doch das tat seiner Würde keinen Abbruch. Merik verneigte sich ebenfalls und erklärte kurz, wie die Sturmschwinge hierher gekommen war. Unterdessen ging Mikela zu den Toten zurück und suchte nach ihren Waffen. Als sie wiederkam, fragte sie: »Und wo sind die anderen? Mogwied, Kral und Ni’lahn?«
Tyrus nahm einem der Toten den Umhang ab und warf ihn sich über. »In den Verliesen. Ich bringe euch zu ihnen. Mit dem Schiff haben wir jetzt eine Möglichkeit zu entkommen.« Er wollte vorausgehen.
Mikela betrachtete die glatte Wand, aus der er getreten war.
Tyrus bemerkte es. »Ein besonderes Geschenk des Nordwalls an die königliche Familie.«
Sie nickte, obwohl sie nicht verstand. Alle Erklärungen hatten auch noch bis morgen Zeit.
Gemeinsam gingen sie durch die Korridore. Dank Tyrus’ Fähigkeit, in der Wand zu verschwinden und sich so an jeden anzuschleichen, der ahnungslos durch die Burg wanderte, waren sie im Handumdrehen an der Wachstube vorbei und in den Verliesen.
Mikela schloss die Zelle auf.
Kral trat als Erster heraus. Als er sah, wer da gekommen war, machte er große Augen. »Merik?«
Der Elv’e nickte ihm zu. »Lange nicht gesehen, Mann aus den Bergen.«
Als Nächster kam Mogwied. Ni’lahn stützte sich auf seinen Arm. Ferndal stupste seinen Zwillingsbruder mit der Nase an und begrüßte ihn mit leisem Winseln. Mogwied erwiderte den Gruß nur kurz, das Gewicht der zarten Nyphai machte ihm zu schaffen. »Sie wird immer schwächer«, sagte er. »Wir müssen sie in den Wald zurückbringen. Überlassen wir diese vermaledeite Burg den Zwergen.«
»Nein«, sagte Mikela. »Zuerst müssen wir herausfinden, wo das Greifen Wehrtor steht.«
Tyrus sah sie stirnrunzelnd an. »Von einem Wehrtor weiß ich nichts, aber die Greifenstatue wurde irgendwo in den Norden gebracht.«
»In die Zitadelle«, nickte Kral. »Dorthin müssen auch wir!«
Mikela nickte. »Das müssen und werden wir. Kommt. Ich erkläre euch alles auf dem Weg zur Sturmschwinge. Das Greifen Tor muss zerstört werden.«
»Wartet«, sagte Merik und sah die wiedererstandene Nyphai mit großen Augen an. Dann öffnete er mit hastigen Fingern sein sperriges Bündel und griff hinein. Er zog einen in Samt verpackten Gegenstand heraus und befreite ihn von seiner schützenden Hülle. Ein kleines Musikinstrument kam zum Vorschein. Das Holz der Laute strahlte eine Wärme aus, als würde es von einem inneren Feuer erhellt. Als er sie Ni’lahn reichte, schimmerte die dunkle Maserung wie reines Gold.
»Die gehört dir, wenn ich nicht irre«, flüsterte Merik und beugte das Knie.
Mit zitternden Fingern nahm Ni’lahn ihre Laute entgegen. Es war, als bekäme sie eine verlorene Gliedmaße zurück. Das warme Holz liebkoste ihre Haut wie die ersten Sonnenstrahlen nach einer endlos langen Nacht. Seufzend vor Glück streichelte sie das Instrument, bis sie den Geist in seinem Holz aufgespürt hatte. Sie hob es an die Lippen und küsste es zärtlich. Geliebter, flüsterte sie so leise, dass nur die Laute es hören konnte.
Dann sah sie mit Tränen in den Augen zu Merik auf. »Ich danke dir.« Schon strömten ihr neue Kräfte zu. Sie konnte allein stehen zwei Hälften zu einem Ganzen vereint.
»Wir müssen gehen«, unterbrach Tyrus die Wiedersehensszene. »Bald wird man die Toten finden. Wir müssen die Burg verlassen haben, bevor alles wach wird.«
Rasch befreiten sie die anderen Gefangenen in den Nachbarzellen: zwei bedauernswerte Holzfäller, die von den Marodeuren gefangen genommen worden waren und im Kochtopf landen sollten. Der Mann mit den verkohlten Beinstümpfen lag leider schon tot in seiner Zelle. Er hatte sich die Zunge abgebissen und war daran erstickt.
»Armer Mensch«, sagte Ni’lahn traurig.
Von da an wurde nichts mehr gesprochen. Man machte
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