Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Seine Geschwindigkeitsreserven waren erschöpft.
»Mikela!« rief er ihr zu.
Mikela duckte sich und suchte nach einer Lücke in der Deckung ihres Gegners. Sie musterte ihn mit raschem Blick. Er stand sicher auf den Beinen und handhabte seine Axt mit großem Geschick. Die Waffe hatte über der Schneide einen scharfen Eisendorn, der lang genug war, um einen kleineren Widersacher damit aufzuspießen. Ein gefährliches Ding.
Sie ballte die Faust. Wenn es ihr gelänge, sich ihn noch eine Weile vom Leibe zu halten, könnten ihre Freunde ihr vielleicht zu Hilfe kommen.
Noch bevor sie zu einem endgültigen Urteil gelangt war, hielt der andere plötzlich einen Schwertbrecher in der zweiten Hand, einen langen Dolch mit einer tiefen Kerbe, in der sich die gegnerische Klinge verfangen und so ein Hieb abgewehrt werden sollte. Sie hatte kein Schwert; aber die scharfe Spitze und die einschneidige Klinge konnten auch so genügend Schaden anrichten. Der Zwerg rollte die kleine Waffe so mühelos in seiner großen Hand hin und her wie einen Kochlöffel.
Im Gegensatz zu den Wachposten auf dem Wehrgang dachte dieser Zwerg gar nicht daran, sie zu unterschätzen. Er setzte alles daran, um sie rasch und möglichst ohne Risiko für sich selbst zu erledigen.
Mikela hörte Meriks Stimme durch den Gang schallen, aber sie wusste, dass er nicht mehr rechtzeitig bei ihr sein würde.
»Jetzt stirbst du, Verräterin«, knurrte der Zwerg. Es klang, als würde er Felsen zerbeißen.
Mikelas Augen wurden schmal. Sie war bereit für seinen Angriff, obschon sie wusste, die Schlacht war verloren. Nicht nur, dass sie keine Waffen mehr hatte. Hinter ihr lag auch eine lange Nacht, in der ein Kampf auf den anderen gefolgt war. Sie war erschöpft und zittrig in den Knien.
Der Zwerg sprang auf sie zu und holte mit Axt und Dolch gleichzeitig aus. Sie trat einen Schritt vor und drehte sich seitwärts, um seine Deckung zu unterlaufen, doch so leicht war dieser Gegner nicht zu täuschen. Der Dolch ritzte ihr die Seite auf und zwang sie zurück auf die Bahn der niedersausenden Axt. Sie war von scharfen Klingen eingekreist und wusste, es war vorbei.
Sie duckte sich, um den Axthieb mit der Schulter abzufangen, und hoffte, dass er sie nur streifen würde aber der Hieb kam nicht.
Eisen traf klirrend auf Stein.
Mikela blickte auf. Aus der Wand war ein Arm gewachsen ein Arm aus Granit! Steinerne Finger hatten die Axt am Schaft ergriffen und sie aufgehalten.
Eine Stimme flüsterte ihr ins Ohr: »Tritt zur Seite, Mikela, wenn dir dein Leben lieb ist.«
Den neckend sarkastischen Tonfall erkannte sie sofort. »Tyrus?«
»Mach Platz, Gestaltwandlerin!«
Obwohl sie das Wunder nicht fassen konnte, duckte sie sich unter der Axt hindurch und rollte sich ab.
Ihr Gegner war so verblüfft, dass er sie nicht einmal aufhielt.
Sie lief ein paar Schritte, dann drehte sie sich um. Der Zwerg versuchte, Tyrus’ steinerner Hand seine Axt zu entreißen. Vergeblich. Er zog den Prinzen nur weitgehend aus der Mauer.
Da die Granitfigur vor ihm stand, wollte er ihr von hinten seinen Dolch in die Niere stoßen, aber die Klinge zerschellte. Tyrus lächelte und zog seinen zweiten Arm nach. In der Hand hielt er ein langes Schwert, aus dem gleichen Granit wie die Mauer.
Mit höhnischem Grinsen holte er aus und durchbohrte den Zwerg. »Das ist für Burg Mryl!« Er riss die Waffe heraus und stieß noch einmal zu. »Und das für mein Volk!«
Sobald er die Wand ganz verlassen hatte, wich die Magik von ihm, und der Granit verwandelte sich in blasse Menschenhaut zurück. Der nackte Tyrus zog sein Schwert aus dem blutüberströmten Zwergenkörper. Die Axt entfiel den dicken Fingern.
Tyrus fasste seine Granitwaffe mit beiden Händen, holte Schwung aus der Hüfte und legte die ganze Kraft seines athletischen Körpers in den nächsten Hieb. Die Klinge fuhr in den Hals des Zwerges und durchtrennte Fleisch und Knochen. Der Kürbisschädel flog in hohem Bogen gegen eine Wand, prallte ab und rollte davon.
Tyrus richtete sich auf, ohne das Schwert loszulassen. »Und das war für meinen Vater«, sagte er, als der kopflose Torso nach hinten fiel.
Der Prinz zitterte vor Schmerz und Wut an allen Gliedern. Mikela wagte kaum, sich ihm zu nähern. »Tyrus …«
Er blickte auf, und der Zorn in seinen Augen erlosch. »Was machst du hier?«
Sie vermied es, den Blick auf seine Blöße zu richten. Er war der Sohn des Mannes, dem sie den Treueid geleistet hatte.
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