Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
kahlen Ästen den Himmel. Ihre dicken, knorrigen Wurzeln ragten weit aus der Erde und bildeten ein hölzernes Labyrinth aus Bögen und Kolonnaden, unter dem sich ein Dickicht aus fahlen Farnkräutern und stachligem Gestrüpp angesiedelt hatte.
Kein Laut war zu hören. Kein Vogelgezwitscher, kein Bienensummen drang durch die Stille.
Tyrus wandte sich an Ni’lahn. »Was weißt du über das Geheimnis der Furchthöhen?«
»Ich kenne alle ihre Geheimnisse«, sagte Ni’lahn leise. Sie trat vor und starrte in den Wald hinein. Tränen glänzten auf ihren Wangen. Schließlich wandte sie sich zu den anderen um und wies mit erhobenem Arm auf die Bäume. »Dies ist meine Heimat. Dies ist Lok’ai’hera.«
Im ersten Moment waren alle sprachlos.
»Deine Heimat?« fragte Mikela endlich ungläubig.
Ni’lahn nickte.
»Und was ist mit den Blutgespenstern?« fragte Tyrus kalt. »Den Grim?«
Ni’lahn betrachtete ihre Zehen. »Sie sind die letzten Angehörigen meines Volkes.«
Tyrus trat auf sie zu. Mordlust stand in seinen Augen. Aber Mikela hielt ihn zurück. »Lass sie reden!«
»Vor langer, langer Zeit«, sagte Ni’lahn tonlos und ohne aufzublicken, »lange, bevor die Menschen in dieses Land kamen, reichten Lok’ai’heras Wälder von Küste zu Küste. Wir wollten in maßloser Selbstüberschätzung das Land umgestalten und ebneten die Gebirge ein, damit sich mehr Bäume aussäen sollten. Doch eines Tages brachte der Wind eine verheerende Fäule über den Wald. Die Bäume begannen zu sterben, ihre Äste verkrüppelten, die Blätter fielen ab. Auch die Nyphai, die mit diesen Bäumen verbunden waren, blieben nicht verschont. Mit dem Lied des Baumes verformte sich die Seele meiner Schwestern und wurde gewaltsam von ihrem Körper getrennt. Sie wurden zu wahnsinnigen Gespenstern den Grim.«
»Aber was war der Grund dafür?« fragte Mikela. »Woher kam die Fäule?«
Ni’lahn bat Merik mit einem Blick um Verzeihung. »Wir verharrten in unserer Selbstgefälligkeit und gaben den Elv’en die Schuld. Wir glaubten, sie hätten uns verraten. Doch heute weiß ich es besser. Wir hatten versucht, gegen die natürliche Ordnung zu verstoßen, und dagegen wehrte sich das Land. Wir waren zu hochmütig geworden, und dafür wurden wir bestraft. Die Seuche zerfraß unsere Wälder, bis schließlich nur noch dieser kleine Bestand an ihrem nördlichen Rand übrig blieb.«
»Und der Rest des von der Fäule befallenen Waldes?« fragte Mikela leise. »Was ist aus ihm geworden?«
»Wir haben ihn verbrannt«, sagte Ni’lahn mit erstickter Stimme. »Mit eigener Hand hielten wir die Fackeln an die kranken Bäume, in der Hoffnung, die Seuche auszubrennen, bevor sie uns auch dieses letzte Stück Wald noch raubte. Es gab eine gewaltige Feuersbrunst. Viele Monde lang verhüllten Aschewolken die Sonne.«
Ni’lahn wischte sich die Tränen ab. »Doch irgendwann siedelten sich neue Pflanzen auf dem geschundenen Boden an, grüne Triebe sprießten aus der Asche. Mit dem neuen Wald kamen auch der Nord und der Südwall. Das Land türmte sie auf und umgab damit das ganze riesige Gebiet. So tat es seine Bereitschaft kund, Sorge zu tragen für den Schutz und die Pflege des keimenden Waldes. Auf diese Weise entstanden im Laufe der Jahrhunderte aus unseren Feuern die Westlichen Marken.«
»Und euer eigenes Gebiet?«
»Unsere Bemühungen waren vergeblich. Vor der Fäule gab es kein Entrinnen. Unsere Bäume waren hinter dem Wall gefangen, und das Sterben ging weiter. Nur ein winziger Hain im tiefsten Inneren überlebte. Inzwischen war der Mensch gekommen und hatte die Landschaften Alaseas besiedelt. Die chirischen Magiker halfen uns zu überleben. Mit ihren neuen Kräften drängten sie die Fäule zurück und hielten die Grim in Schach. Doch dann verschwand Chi, und wir waren abermals wehrlos. Die Fäule kehrte zurück und bedrohte auch unsere letzten Bäume. Die Grim wurden stärker. Der Nordwall wurde zur Heimat der Dro, der menschlichen Verbündeten des Landes. Sie hatten den Auftrag, die Grim daran zu hindern, in die Westlichen Marken vorzudringen. Die letzten meiner Schwestern waren den Dro und ihren Königen dabei behilflich.« Ni’lahn warf einen Blick auf Tyrus. »Daher der geheime Gang unter dem Wall: ein stummes Zeugnis für den Pakt zwischen unseren Völkern.«
Ni’lahn wandte sich dem Wald zu. »Doch irgendwann gab es nur noch meinen Baum, er war der einzige Überlebende. Aus seinem Kernholz wurde die Laute geschnitten, und mit den letzten
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