Alasea 04 - Das Buch der Prophezeiung
zu der Meuchlerin und umarmte sie stürmisch.
Kesla nahm es mit gleicher Zärtlichkeit in die Arme und erhob sich geschmeidig. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie, dass Joach sie unverwandt anstarrte. Das Lächeln erstarb ihr auf den Lippen.
Sie drückte die Kleine noch einmal an sich, stellte sie auf die Planken und klopfte ihr auf den Rücken. »Jetzt lauf und such Hant, Scheschon. Er soll dir eine Belohnung geben, weil du gewonnen hast.«
Das Mädchen nickte eifrig mit dem Kopf und rannte davon, ein Wirbelwind aus flinken Beinen und fliegendem schwarzem Haar.
Joach sah der Kleinen stirnrunzelnd nach, bis sie in der Heckluke verschwunden war. Sie war zwar als De’rendi geboren, wies aber viele Züge der Mer’ai auf wie etwa die Schwimmhäute an Fingern und Zehen und das durchsichtige innere Augenlid. Joach hatte sich noch immer nicht damit abgefunden, dass man ein Kind von nur sechs Wintern auf eine so gefährliche Reise mitnahm. Aber Scheschon war mit Hant, dem Sohn des Großkielmeisters, an Bord gekommen. Das ungewöhnliche Paar war durch ein geheimnisvolles Gespinst aus Magik und uralten Eiden untrennbar miteinander verbunden. »Sie ist mein Mündel«, hatte Hant entschieden erklärt, »ich habe ihrem Großvater bei meinem Blut geschworen, über sie zu wachen.«
Kesla ließ sich wieder auf die Knie nieder und sammelte die Stäbchen ein.
Joach trat zu ihr. Seit fast einem Viertelmond waren sie nun schon unterwegs zum Südwall, aber er hatte kaum ein Wort mit ihr gesprochen. Jetzt blickte sie zu ihm auf. Ihre tiefblauen Augen glänzten im hellen Licht und jagten ihm einen Stich durchs Herz.
Er schluckte hart und wandte sich ab. Noch immer konnte er kaum glauben, dass sich hinter dem Küchenmädchen Marta diese aalglatte Meuchlerin verborgen hatte. Wie leicht er auf sie hereingefallen war!
Kesla räusperte sich. »Warum probierst du das Spiel nicht auch einmal? Es ist nicht so einfach, wie es aussieht.«
»Ich habe keine Zeit für Spiele«, sagte er kalt, aber seine Beine rührten sich nicht von der Stelle.
»Ja, du siehst sehr beschäftigt aus, wenn du so an der Reling stehst. Außerdem ist es nicht irgendein Spiel. Es wird im Unterricht eingesetzt; die Lehrlinge unserer Gilde trainieren damit die Geschicklichkeit der Hände und Finger.«
Joachs Miene verfinsterte sich. »Ein Mörderspiel. Dann will ich nichts damit zu tun haben.«
»Du hast wohl Angst, dass ich gewinne?«
Er drehte sich um. Sie sah immer noch zu ihm auf und hatte eine Augenbraue schelmisch hochgezogen. Er zögerte, die Röte stieg ihm in die Wangen. Er ging auf die andere Seite des Stapels und ließ sich auf die Knie fallen. »Wirf die Stäbe.«
Sie sammelte die letzten Hölzer ein, klopfte sie mit beiden Fäusten zu einem ordentlichen Bündel und warf sie dann zu einem Haufen so wirr wie Reisig im tiefen Wald auf die Planken. »Du musst sorgfältig auswählen. Einen Stab herausziehen, ohne dass sich die anderen bewegen.«
»Ich kenne das Spiel.«
»Du hast uns also heimlich zugesehen?«
Joach blickte auf. Sie legte den Kopf schief. Ihr goldenes Haar hing ihr, zu einem Zopf geflochten, über die Schulter. »Es ist schließlich ganz einfach«, gab er zurück.
»Manchmal sind gerade die einfachsten Spiele auch die kniffligsten. Nimm ein Stäbchen.«
Joach überlegte lange, bevor er seine Wahl traf. Ein Stäbchen lag ganz oben. Wenn er es schnell wegzog, müssten die darunter liegenden bleiben, wo sie waren. Er verwendete die linke Hand, da ihm an der Rechten zwei Finger fehlten, und als er mit äußerster Konzentration nach dem Stäbchen greifen wollte, zitterte er. Er zog die Hand zurück, ballte sie zur Faust und versuchte es erneut. Diesmal fasste er den kleinen Holzspieß und zog ihn fein säuberlich heraus. Dann richtete er sich auf. »Fertig!«
»Sehr gut«, flüsterte Kesla, beugte sich über den Stapel und studierte ihn mit zusammengekniffenen Augen. Erst von rechts, dann von links. Von oben und von unten. Endlich wählte sie ein Stäbchen, das fast ganz zuunterst lag ein riskanter Zug wegen der vielen anderen, die sich darüber türmten. Ihre Finger schossen so schnell vor, dass das Auge kaum folgen konnte, und schon hielt sie das Hölzchen in der Hand. »Fertig«, meldete auch sie und legte die Trophäe neben ihr bloßes Knie.
Joach war beeindruckt. Wie hatte sie das gemacht? Er griff nach einem weiteren Stäbchen von oben und brachte es an sich, ohne dass die übrigen ins Wackeln gerieten.
Sie nickte und holte
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