Alasea 05 - Das Buch der Entscheidung
seinen grausigen Eiern verseucht, als Nächstes hat er es auf die Flotte abgesehen. Wer weiß, was er sich für unsere Landstreitkräfte ausgedacht hat?«
Edyll deutete über die Reling auf das brodelnde Meer und fuhr fort: »Was mir Sorgen macht, sind nicht die äußeren Bedingungen, sondern die Kampfbereitschaft unserer Truppen. In nur fünf Tagen ist Vollmond, und wir sind noch längst nicht gerüstet für einen vollen Angriff.«
»Welcher Krieg wäre jemals zu einem günstigen Zeitpunkt gekommen?« fragte Kast. »Man muss einfach das Schwert in die Hand nehmen und angreifen oder sich wehren.«
Der Älteste schüttelte den Kopf. »Aus dir spricht der Blutreiter«, murmelte er.
Kast seufzte. »Wir werden diesen Krieg gewinnen.«
»Woher willst du das wissen?«
Kast schaute über die Nebelfelder hinweg nach Norden. »Wir werden gewinnen, weil wir gewinnen müssen. Ohne einen Sieg haben wir keine Zukunft.«
Lange blieb es still; dann sagte Edyll leise: »Und ohne einen Sieg gibt es auch keine Hoffnung für Saag wan, nicht wahr?«
Kast umklammerte die Reling fester und senkte den Kopf. »Ich liebe meine Nichte«, fuhr der Älteste fort. »Aber in dem Kampf, der vor uns liegt, kann auf den Einzelnen keine Rücksicht genommen werden. Wir müssen große Opfer bringen. Vergiss nicht, in dir wurde Drachenbruder wieder geboren.«
Kast machte ein finsteres Gesicht. Seine Hand hob sich wie von selbst und berührte den Drachen, der ihm auf Hals und Wange tätowiert war. Im Geiste sah er wieder das alte Gemälde mit dem gemeinsamen Ahnherrn der beiden Völker, der De’rendi und der Mer’ai, vor sich. Drachenbruder ritt auf einem weißen Drachen und trug die gleiche Tätowierung wie er. Der Kreis hatte sich geschlossen, die Vergangenheit hatte die Gegenwart eingeholt und berührte sie, so wie der zusammengerollte Drache auf seiner Wange mit dem Schwanz seine Schnauze berührte.
»Drachenbruder wurde zu seiner Zeit vor schwierige Entscheidungen gestellt, und ich fürchte, dass dir noch härtere Prüfungen bevorstehen.«
Kast antwortete nicht. Eine Frage lag ihm schwer auf der Seele, über die er bisher mit niemandem gesprochen hatte. Scheschons Worte klangen ihm immer noch im Ohr: Papa hat gesagt, du musst den Drachen töten.
»Du wirst das Wohl der Welt über die Wünsche deines Herzens stellen müssen«, vollendete Meister Edyll. »Fühlst du dich dazu imstande?«
Kast ballte die Hand zur Faust. »Was sein muss, muss sein.«
Edyll nickte. »Du bist wahrhaftig der wiedergeborene Drachenbruder.« Er klopfte ihm auf die Schulter, dann verließ er das Deck und begab sich nach unten.
Kast blieb allein und in Gedanken versunken im Wind zurück. Wieder beschwor er das Gemälde herauf, das seinen Ahnherrn auf dem großen weißen Seedrachen zeigte. Was hätte Drachenbruder in seiner Lage getan? Hätte er sein eigenes Reittier töten können? Hätte er die nötige Härte aufgebracht? Konnte man so viel Härte überhaupt aufbringen?
Im Laufe der vergangenen Winter war die Grenze, die Kast und den Drachen voneinander trennte, ständig dünner geworden. Inzwischen kannte Kast das Herz des Drachen fast wie sein eigenes. Ragnar’k war wild und ungebärdig, dabei aber unerschütterlich treu, und er liebte Saag wan mit der gleichen Inbrunst wie Kast selbst. Diese Liebe schuf innigere Bande zwischen Mensch und Drache, als es bei anderen Reitern und ihren Tieren der Fall war. Kast konnte sich nicht vorstellen, wie er Ragnar’k töten sollte, und er wusste erst recht nicht, ob er es jemals über sich brächte.
Scheschons Warnung dröhnte durch sein Bewusstsein: Weil der Drache sonst die Welt auffrisst. Kast bezweifelte nicht, dass Scheschon die Gabe der Rajor Maga besaß, aber sie war doch noch ein Kind. Vielleicht hatte sie ihre prophetischen Träume falsch gedeutet? Durfte er es wagen, sich bei einer Entscheidung von solcher Tragweite auf sie zu verlassen?
Er musste auch an Saag wan denken. Der Einfluss des Tentakelwesens in ihrem Kopf war nur mit Ragnar’ks Magik zu brechen. Machte er nicht auch jede Hoffnung auf ihre Befreiung zunichte, wenn er den Drachen tötete?
Über ihm knatterten die Segel. Die Rabenschwinge schwenkte, wie immer auf der Suche nach schnelleren Luftströmungen, leicht nach Backbord und trug ihn in rasender Geschwindigkeit einem ungewissen Schicksal entgegen. Er entschied sich, seinem Herzen zu vertrauen. Er hatte in Scheschons Augen eine Sicherheit gesehen, die er nicht so einfach übergehen konnte.
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