Alaska
als eine Woge von gigantischem Ausmaß ostwärts rollte, an der Oberfläche nur als kleine Erhebung von einem knappen halben Meter sichtbar, die sich aber Kodiak mit der schrecklichen Wucht von über 700 Kilometern in der Stunde näherte.
Die Mündung der Bucht erreichte sie nicht als eine einzige, alles überrollende Flutwelle; ihre Vorläufer kamen in aller Stille, fast heimlich, aber dann wurden es immer mehr, und sie folgten schneller aufeinander, und der Druck wurde so stark, dass das Wasser langsam anstieg, erst 3 Meter, dann 6 und schließlich 17 Meter. Neun schreckliche Minuten lang blieb es auf diesem Stand, und als es wieder aus der Bucht abzog, war die Sogkraft so gewaltig, dass alles mitgerissen wurde.
Pater Vasili kletterte die Felsen entlang, die wertvollen Ikonen seiner Kirche zu retten, und hatte gerade eine kleine Erhebung erreicht, als ihn ein Anblick traf, der ihn an der Gerechtigkeit seines Gottes zweifeln ließ. Die turbulente Strömung berührte nicht einmal die einsame Fichte, die dem Schamanen als Tempel gedient hatte, riss dafür aber die christliche Kirche aus ihrem Fundament, wirbelte sie mal hier-, mal dorthin und schleuderte sie dann gegen den Felsen, wo sie wie ein Glas zersplitterte.
Der Ort, eingeklemmt in der Bucht, wäre vollständig vernichtet worden, seine Bewohner alle umgekommen, wenn nicht der junge Kyril Zhdanko auf die ersten Zeichen der Flutwelle reagiert hätte. »Eine schreckliche Gefahr droht! Ich habe das einmal auf Lapak miterlebt!« Er ließ den Gefangenen Yermak Rudenko frei, ihm zu helfen, die Bewohner in höhergelegene Gebiete zu bringen. Der kräftige Kerl zerrte zuerst den verdutzten Pater Vasili und dann Baranov einen steilen Berg hoch, setzte sie wie kleine Kinder auf einen Vorsprung, der so aussah, als würde das Wasser ihn nicht einnehmen, lief dann den Berg ein zweites Mal hinunter, um noch andere zu retten, als eine turmhohe Welle angerollt kam, alles umstürzte und ihn mit in den Tod riss .
Dem einen löste die große Flutwelle von 1792 die Probleme, für den anderen ergaben sich daraus ungeahnte Schwierigkeiten. Schon während der ersten Stunden nach der Katastrophe war Baranov zu dem Schluss gekommen, dass der Platz für den Ort nicht gut gewählt war und dass ein sicherer Hafen im Norden der Insel vorteilhafter sein würde. Die neue Stadt Kodiak sollte ostwärts, in die Zukunft und auf die Herausforderungen Nordamerikas schauen. Der alte Ort war wie durch eine unsichtbare Nabelschnur noch mit Sibirien verbunden, während Kodiak seine Fühler nach dem neuen Alaska ausstrecken sollte.
Der zweite, dessen Leben sich durch die Flutwelle schlagartig veränderte, war Pater Vasili. An dem traurigen Tag, an dem sechzehn Opfer der Katastrophe bestattet wurden, war aus seinem Mund nur ein Murmeln zu vernehmen, als er in sein Gebet auch die Seele des verstorbenen Yermak Rudenko einschließen sollte, denn das Leben dieses brutalen Mannes mit Gemeinplätzen auszuschmücken, obwohl allen Anwesenden die Wahrheit bekannt war, das konnte man nicht mit Anstand von ihm verlangen. Selbst wenn er Gnade vor Recht ergehen ließ, ein Blick über die Gräber auf Sofia Kuchovskaja, wie sie bewegungslos dastand und auf die krümelige Erde starrte, die die Leiche ihres abscheulichen Mannes bedecken sollte, hielt ihn davon ab.
In diesem eher zufälligen Blick sah der junge Priester in blitzartig aufleuchtenden Bildern die Lebensgeschichte dieses mutigen Mädchens: der Abschied von Lapak, die schreckliche Flucht im Frachtraum des Schiffes, die Schläge, die Vergewaltigungen, die Treue zu ihrer alten Religion und der Übertritt zur neuen. Sie war, dachte er weiter, eine junge Frau von klarem, reinem Charakter, die sich vom Bösen nicht hatte besudeln lassen und die für das Gute einer alten Gesellschaft stand, einer Gesellschaft, die im Untergang begriffen war und Platz für eine neue schuf. Er sah ihre kräftigen Backenknochen, die dunklen gescheiten Augen und schließlich, als das Grab geschlossen wurde, ihr Lachen, das sie nicht unterdrücken konnte, nicht aus Freude über die Bezwingung des Bösen, sondern darüber, dass ein Abschnitt ihres Lebens sein Ende gefunden hatte. Fast glaubte er, einen Seufzer der Erleichterung von ihr zu vernehmen, als sie sich umschaute und zu fragen schien: »Was nun?«
Am Tag nach der Bestattung bestellte Baranov Pater Vasili in sein vom Sturm schwer getroffenes Amtszimmer und übergab ihm einen überraschenden Auftrag. »Ich fühle mich
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