Alaska
Baranov fragte erstaunt: »Wie können sie nur so groß werden?«, worauf Rudenko erklärte: »Kodiak ist eine Insel. Es gibt mehr Beeren, -als Ihr euch vorstellen könnt. Und keinen, der dem Bär was antun könnte. Also tun sie nichts anderes als fressen und wachsen und fressen und wachsen.«
Das Tier wurde geschlachtet, die genießbaren Fleischbrocken zur Siedlung geschafft; das Fell ließ Baranov reinigen und das Tier in seinem Amtszimmer wieder auf erstehen. Dieser ausgestopfte Bär, der jetzt bedrohlich in einer Ecke des Raums stand, sollte in der Folge Rudenko das Leben retten, der, nachdem er die Gunst des neuen Verwalters gewönnen hatte, fälschlich glaubte, damit auch das Recht wiedererworben zu haben, seine Frau zu schlagen, die als Aleutin keine Beachtung verdiente. Er machte ihr eine abscheuliche Szene, bezichtigte sie irgendeines unbedeutenden Vergehens, und als sie wie üblich seine Vorwürfe zurückwies und ihn dann mit ihrem Schweigen verspottete, wurde er aufgebracht und schlug sie ins Gesicht.
Ein paar Jungen liefen sofort zur Hütte des Schamanen und berichteten, was Rudenko getan hatte, und er stellte nur eine Frage: »Ihr sagt, sie blutet?« Und sie antworteten: »Ja, im ganzen Gesicht.« Da wusste er, dass er eingreifen musste , denn wenn die russischen Verwalter trotz sichtbaren Beweises einer solch groben Ungerechtigkeit nichts unternahmen, dann musste er es tun. Er sagte der Mumie Lebewohl und ging entschlossen los, eine Handlung zu begehen, die, so vermutete er, wahrscheinlich seine letzte als Schamane sein würde, die er aber nicht aufschieben konnte.
Ausgemergelt, zerzaust, leicht vornübergebeugt, ein alter Mann mit dem brennenden Verlangen, seine alte Religion zu bewahren und gegen neue böse Einflüsse, die sein Volk lähmten, anzukämpfen; ging er kühn auf Rudenkos Behausung zu und rief: »Rudenko, die Geister belegen dich mit einem Fluch. Du wirst deine Frau nie Wiedersehen! Nie wieder wirst du sie missbrauchen !«
Rudenko saß in der Hütte mit zwei Kameraden, sie tranken gemeinsam eine Art Bier, gebraut aus Preiselbeeren, jungen Fichtennadeln und Seetang, und der Lärm draußen ärgerte ihn, vor allem als er seinen Namen hörte und die Drohung vernahm. Er ging auf die Holztür zu und schüttelte sich vor Abscheu, als er die jämmerliche Gestalt des Schamanen sah. »Scher dich weg! Lass rechtschaffene Männer in Frieden trinken!«
»Rudenko, auf dir liegt ein Fluch! Das Böse wird über dich kommen!«
»Hör mit deinem Gekeife auf, oder ich schlage dich zusammen.«
»Rudenko, du wirst deine Frau nicht noch einmal missbrauchen ! Du wirst nie mehr...«
Rudenko sprang aus dem Türrahmen auf den Schamanen zu, und auch die beiden Kumpane torkelten aus der Hütte, bereit, den Alten zu verprügeln, ja, ihn zu töten. Rudenko dagegen hatte nur die Absicht, ihm einen Schrecken zu versetzen und ihn in sein Erdloch zurückzujagen. »Nicht schlagen!« rief er, aber es war zu spät, denn seine Freunde setzten dem alten Mann so schwer zu, dass er rückwärts strauchelte, wieder auf die Beine kam und zu seiner Hütte wankte, wo er auf den Wurzelsträngen zusammenbrach.
Pater Vasili erfuhr schnell, was geschehen war, und obwohl er alles, was von dem Hexenmeister gekommen war, bekämpft hatte, wusste er auch, dass christliches Mitleid von ihm verlangte, dem Mann beizustehen. Er eilte zu seiner Hütte und betrat zum ersten Mal die dunkle Welt des Schamanen.
Er war entsetzt über die Düsternis, den dunklen erdigen Boden, die gestapelten Bündel hier und da, aber noch mehr bestürzt war er über den Zustand des alten Mannes, der zusammengekauert dalag, das Haar aufgelöst, das eingefallene Gesicht blutbefleckt. Vasili wiegte den Kopf des Schamanen in seinen Händen und flüsterte ihm zu: »Hör zu, alter Mann. Du wirst wieder gesund.«
Lange Zeit erfolgte keine Antwort, und Vasili fürchtete schon, sein spiritueller Gegner wäre tot, aber allmählich gewann der alte Kämpfer seine Kraft wieder, die er in den Vergangenen Jahren der russischen Besatzung und der Angriffe der christlichen Kirche so oft bewiesen hatte. Als er schließlich die Augen öffnete und sah, wer sein Retter war, schloss er sie wieder und fiel zurück in eine leblose Benommenheit.
Pater Vasili blieb fast den ganzen Nachmittag bei ihm. Gegen Abend rief er ein paar Kinder, sie sollten Sofia Rudenko holen, und als sie im Eingang der Hütte stand, entsetzt über den Anblick, der sich ihr bot, sagte er nur: »Er ist
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