Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
von dem Flusslauf, der das Dorf begrenzte. Außer ihnen befanden sich noch fünf weitere MI-8-Transporthubschrauber auf dieser Mission. Kaum waren sie gelandet, wurden sie von mehreren Maschinengewehren unter Beschuss genommen, wobei der letzte MI-8 Feuer fing. Hauptmann Kalinowski befahl über Funk, sich zu sammeln, sobald die drei verbliebenen Kampfhubschrauber ihnen genügend Feuerschutz geben würden. Kurz darauf robbten sie durch ein Stoppelfeld auf die einzige Brücke zu. Nikolai bildete mit seinem Trupp die Nachhut. Als sie noch etwa zwanzig Meter vom Ufer entfernt waren, flog die Brücke mit drei Dutzend ihrer Kameraden in die Luft. Nikolai wurde von der Druckwelle hochgerissen, landete hart auf dem Rücken und wurde von einem Regen aus Steinen, Holz und Kugeln begraben.
Als er wieder zu sich kam, befand er sich mit einer Gehirnerschütterung und einem zertrümmerten Oberschenkel in einem Lazarett in Kabul. Sie hatten ihn wieder zusammengeflickt und er erhielt eine Schonzeit von sechs Wochen, bevor sie ihn in das Inferno zurückschicken würden. Die ersten Tage konnte er sich nur wenige Minuten lang wachhalten, hin und wieder glaubte er, verschwommen ein bekanntes Gesicht wahrzunehmen. Am dritten oder vierten Tag wurde er schließlich durch einige unsanfte Klapse auf den Oberarm geweckt: »Jetzt hast du aber genug geschlafen, Genosse«, die Stimme kam ihm irgendwie vertraut vor. Er öffnete die Augen und erkannte undeutlich das Gesicht von Jewgenji. Sein alter Freund war bei einer Offensive im Rokha-Tal ebenfalls verwundet worden.
»Es ist immer dasselbe«, schloss Jewgenji stockend seinen Bericht an Nikolais Feldbett ab, »wenn wir angreifen, verschwinden sie in den Bergen und zermürben uns mit Störangriffen und Terroranschlägen.«
»Was ist mit deiner Stimme los?«, fragte Nikolai.
»Streifschuss«, Jewgenji deutete auf seinen Halsverband, »hat den Kehlkopf in Mitleidenschaft gezogen. Eigentlich soll ich gar nicht reden.«
»Die verdammten Yankees versorgen sie mittlerweile mit Raketen«, Nikolai versuchte, sich etwas aufzurichten, »direkt vor uns hat es einen MIG-24 zerrissen.«
Die beiden Freunde schwiegen eine Weile. Nikolai hatte immer noch starke Kopfschmerzen, was ihn jedoch nicht davon abhielt, täglich eine Schachtel Zigaretten zu rauchen. Er war fast der leichteste Fall in diesem Schlafsaal. Um ihn herum lagen Kameraden mit amputierten Armen und Beinen, Erblindete und innerlich Zerfetzte, die ihre Qualen nur mit hohen Morphium-Dosen ertragen konnten. Die Luft war erfüllt vom Stöhnen und Klagen der Hoffnungslosen und so mancher stammelte unter dem starken Einfluss der Beruhigungsmittel wirres Zeug oder zitierte in der Schule gelernte Kinderreime. Ein Obergefreiter schräg gegenüber sang immer wieder das Lied von Anouschka, die war so schön wie Milch und Blut.
»Ich habe lange nachgedacht«, flüsterte Jewgenji Nikolai heiser ins Ohr, »ich glaube nicht, dass ich da draußen noch einmal so davonkomme.«
Nikolai nickte.
»Wir müssen hier raus«, raunte Jewgenji, »ohne zu desertieren und ohne unehrenhaft entlassen zu werden. Das kann nur eines bedeuten …«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, Nikolai blickte nachdenklich zur Decke.
»Haaatschi!«
»Gesundheit!«
»Danke!«
»Sommergrippe?«
»Nein, ich fürchte, mein verdammter Heuschnupfen kommt wieder«, Renan schnäuzte sich, knüllte das Taschentuch zusammen und sah sich fragend um.
»Seit wann hast du denn Heuschnupfen?«, fragte Woodstock.
»Seit fünf Jahren, aber ich will es noch nicht so recht wahrhaben«, sie stand auf und ging in das Innere der Kantine, um einen Abfalleimer zu suchen. Sie befanden sich im dritten Stock des Präsidiums und hatten einen der Kantinentische samt Stühlen auf den Gang getragen, weil es dort nicht so erbärmlich heiß war.
»Dann hast du also auch einiges mit Spätaussiedlern zu tun«, stellte Alfred fest, während er den letzten Rest seines Seelachsfilets in Remouladensauce tunkte.
»Ja, wir haben uns aufgeteilt«, nickte er, »Kollege Weiß ist für Türken und andere Moslems zuständig, ich für die Russen und Anja für den Rest.«
Woodstock hieß eigentlich Stefan Hasselt und verdankte seinen Spitznamen einer frappierenden Ähnlichkeit mit Snoopys gefiedertem Freund. Er war klein und sehr dünn, sein blondes Haar stand fransig vom Kopf ab und seine Nase glich in Form und Größe eher einem Schnabel. Er war einer der drei Jugendkontaktbeamten, die sich die hiesige Polizei
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