Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
lebendig, »und diese Chance hätte er gleich nach der Tat wahrnehmen müssen. Hat er aber nicht getan, sondern sich lieber an den Güterbahnhof gestellt. Jetzt abzuhauen ist eigentlich zu riskant. Wenn er wirklich clever ist, versteckt er sich hier in der Nähe und wartet ab, bis sein Fall in den Hintergrund gerät.«
»Heißt das, dass wir jetzt jedes Mauseloch im Großraum durchsuchen müssen?«, Renan blies die Backen auf.
»Wilder Aktionismus hat keinen Sinn«, beschied Alfred. »Wir sollten lieber gut überlegen. Was meinst du, Herbst?«
Doch Konrad war mit dem Kinn auf die Brust gesunken und schnarchte in einem langsamen Crescendo.
Nikolai rieb sich die Augen und klappte sein Notizbuch zu. Die Erinnerung an eine längst untergegangene Welt strengte ihn mehr und mehr an. Er hatte die letzte Zeit teils bei den Pennern im Burggraben verbracht, sich auf sehr belebten Plätzen aufgehalten oder im Freibad gelegen, wo er tagsüber schlief und in sein Notizbuch schrieb. Es gab in der Tat kaum einen Ort, wo er sich sicherer fühlte. Man legte sich einfach zwischen Tausende anderer fast nackter Körper in den Schatten, zog die Mütze über die Augen und konnte beruhigt vier bis sechs Stunden schlafen. Nikolai machte sich keine Illusionen, er wurde mittlerweile im ganzen Land gesucht und stand wohl auch schon bei Interpol auf der Fahndungsliste, aber hier hatte er noch nie einen Polizisten gesehen. Er hatte seine Fluchtroute auf zwei mögliche Varianten festgelegt und dabei die Option Südosteuropa schweren Herzens wieder verworfen. Er wäre gerne nach Rumänien oder Bulgarien ans Schwarze Meer gegangen, konnte aber die Verflechtung der dortigen Behörden mit den russischen Nachfolgeorganisationen des KGB nicht richtig einschätzen. Es gab immer noch einige Personen in Moskau, die sich an ihn erinnerten, und diese Personen hatten noch vor fünfzehn Jahren enge Kontakte zu den Kollegen in anderen Staaten des Ostblocks gepflegt – dieses Risiko konnte er nicht eingehen. Blieb die nächste Option: Südamerika. Paraguay schien Nikolai als erste Station am geeignetsten. Es gab kein Auslieferungsabkommen mit Deutschland, ein Putsch jagte den anderen, die Behörden waren korrupt, dass es zum Himmel stank, und das Land stand weniger im Fokus internationaler Beobachtung wie etwa Kolumbien oder Nicaragua. Er würde noch ein paar Tage warten, bis an den deutschen Grenzen genug neue Fahndungsfälle aufgelaufen waren, sich dann zum nächstgelegenen Autobahnrasthof begeben und dort per Anhalter in Richtung Holland aufbrechen. Kurz vor der Grenze würde er aussteigen und auf einem abgelegenen Pfad zu Fuß nach Holland gelangen. Dann wieder per Autostopp nach Rotterdam. Für diesen Teil des Weges hatte er einen finnischen Pass, der ihn als Aki Kaumismannem auswies. Damit war er EU-Bürger eines Landes, dessen Sprache kaum ein Mensch verstand oder auch nur zuordnen konnte, und die Chancen standen gut, dass bei einer Kontrolle nicht weiter nachgefragt würde. In Rotterdam würde er sich schließlich auf seinen Instinkt verlassen: Entweder würde er sich neu einkleiden und als deutscher Geschäftsmann Heinrich Schindler den in fünf Tagen gebuchten Flug nach Asunción antreten, was die schnellere und riskantere Variante war. Oder er würde im zweitgrößten Hafen der Welt auf einem Frachter anheuern, der Süd- oder Mittelamerika anlief. Es gab genug verrostete Kähne, die unterbesetzt waren und deren Kapitäne gerne auf alle Formalitäten und Fragen verzichteten, wenn sie ein weiteres Besatzungsmitglied in Aussicht hatten. Insgeheim hoffte Nikolai sogar darauf, einen kaum noch schwimmtauglichen russischen Tanker zu finden, dessen versoffener Kapitän ohne zu zögern einen Landsmann aufnehmen würde. Auf die Heuer brauchte er keinen Wert zu legen, Verpflegung und Wodka reichten vollkommen aus.
Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und blickte in das Laub der Pappel, die ihm einen angenehmen Halbschatten spendete. Links und rechts von ihm roch es nach Sonnenöl. Vom Nichtschwimmerbecken drang das Quieken und Plärren Hunderter kleiner Kinder herauf. Ab und zu ertönte eine erboste Ermahnung des Bademeisters aus einem Lautsprecher. Nikolai war seit seiner Militärzeit ein begeisterter Schwimmer, die 27 Grad des trüben Wassers im Sportbecken waren ihm jedoch deutlich zu warm. Die Hälfte wäre genau richtig gewesen bei dieser Hitze, so wie der Fluss, in den sie immer als Kadetten getrieben worden waren.
Irgendwie fühlte er sich
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