Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
verbracht hatte. Im Großen und Ganzen war der Phantasie der fünften Hauptverwaltung keine Grenze gesetzt und sie schaffte es in vielen Fällen, stolze und zähe Bürgerrechtler in wimmernde Schatten ihrer selbst zu verwandeln.
Er erinnerte sich an das KGB-Musterbeispiel des Untergrundverlegers Piotr Jakowlew, der noch kurz vor seiner Verhaftung ein Schreiben veröffentlicht hatte, dass alle Geständnisse, die ihm in der Haft abgepresst würden, als ungültig zu betrachten seien. Im Gefängnis weigerte sich Jakowlew wochenlang überhaupt irgendwelche Aussagen zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu machen. Ein KGB-Spitzel in seiner Zelle überzeugte ihn schließlich, dass er sich äußern müsse, um so seine profunde Kenntnis der sowjetischen Gesetze an die Öffentlichkeit zu bringen. Er könne so ein leuchtendes Beispiel für andere verhaftete Dissidenten werden. Sein Chefvernehmer vom KGB hieß Alexandrowski, der ihm mit fast unmenschlicher Geduld zunächst gestattete, sämtliche Fragen schriftlich mit mehreren Tagen Bedenkzeit zu beantworten. Später bekam Jakowlew im Gefängnis eine Lungenentzündung. An diesem Punkt brachte Alexandrowski seine Frau Sonja ins Spiel. Diese war vom Anblick ihres leichenblassen, abgemagerten und zitternden Mannes so verschreckt, dass sie ihn nach seiner Genesung überredete, mit dem KGB zu kooperieren.
Kurz vor Weihnachten brach er schließlich völlig zusammen und verfasste eine über hundertseitige Aussage, in der er 60 andere Dissidenten mit Namen nannte und belastete. 57 von ihnen wurden verhaftet und ihrem Verräter gegenübergestellt.
Der Prozess war dann nur noch eine Formalität. Der Angeklagte wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und gab folgende Schlusserklärung ab: »Wir begannen mit der Forderung, dass die Gesetze beachtet werden müssten, und endeten damit, sie zu brechen.«
Anders verhielt es sich im Fall Myschinski, für den Nikolai eine gewisse Bewunderung empfand. Dieser konnte nicht dazu gebracht werden, im Vorfeld der Gerichtsverhandlung seine Schuld einzugestehen. Sämtliche Tricks der fünften Hauptverwaltung schlugen fehl oder konnten nicht angewandt werden. So war Myschinski ein Einzelgänger ohne Angehörige, er hatte keine Frau und es waren keinerlei Informationen über sonstige nahe stehende Personen zu bekommen. Nach fünfzehn Monaten Untersuchungshaft blieb nichts anderes übrig, als das Verfahren ohne ein vorheriges Geständnis des Angeklagten zu eröffnen. Der Prozess drohte für die UdSSR zu einer großen Pleite zu werden. Gleich am ersten Tag konfrontierte ihn der Staatsanwalt mit dem Vorwurf, mehrere Manuskripte von Untergrundschriftstellern in den Westen geschmuggelt zu haben. Myschinski belehrte den Ankläger daraufhin, dass es nach geltendem Recht nicht verboten sei, Manuskripte ins Ausland zu schicken, weshalb er diesen Anklagepunkt nicht anerkenne. Im weiteren Verlauf des Verfahrens brachte Myschinski sowohl die Anklage als auch die Richter in Verlegenheit, indem er sie in definitorische Widersprüche verwickelte.
»Ihre Handlungen hatten nur ein Ziel«, wetterte der Staatsanwalt, »und zwar, das Sowjetregime zu untergraben!«
»Es trifft sich gut, dass Sie das erwähnen«, antwortete Myschinski, »dann kann ich Sie endlich fragen, wen Sie mit Sowjetregime meinen.«
»Was soll das heißen?«, stotterte der Staatsanwalt, »damit ist natürlich unser Staat gemeint, die Partei, die Regierung, der Sozialismus!«
»Ja, was denn nun?«
»Das ist einerlei«, schaltete sich ein Richter ein, »in unserem System ist das Volk eins mit der Partei und somit auch mit der Regierung.«
»Und wie soll ich eine derart abstrakte Vorstellung untergraben?«, fragte Myschinski weiter.
»Indem Sie das System diskreditieren«, brüllte der Staatsanwalt.
»Wenn Volk und System eins sind«, erklärte Myschinski, »kann ich das System nicht diskreditieren, indem ich auf Menschenrechtsverletzungen hinweise, die vielen Teilen des Volkes widerfahren. Damit helfe ich dem System!«
»Im Gegenteil«, beharrte der Ankläger, »damit richten Sie Schaden an!«
»Können Sie das beweisen?«
Nikolai hatte über einige Ecken eine Kopie des Prozessprotokolls erhalten und hatte diese Passage respektvoll rot markiert.
Schließlich ließ die Anklage zwanzig Zeugen aufmarschieren, die behaupteten, dass es in der Sowjetunion keine Menschenrechtsverletzungen gäbe und den Bürgern alle in der KSZE-Schlussakte enthaltenen Freiheiten garantiert seien.
Myschinski
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