Albach und Mueller 01 - Russische Seelen
wurde daraufhin zu zehn Jahren Zuchthaus und anschließendem Arbeitslager verurteilt. Gleichzeitig gelangten weitere Abschriften der Prozessprotokolle in den Westen. Sie beschäftigten sowohl die Presse als auch die internationale Diplomatie über Monate hinweg. Etwa ein halbes Jahr nach der Verhandlung sollte Myschinski in ein Gefängnis nahe Murmansk verlegt werden. Aufgrund eines falschen Marschbefehls wurde er jedoch nach Moskau in die KGB-Zentrale gefahren. Dort erhielt er über unbekannte Kanäle Zivilkleidung sowie gefälschte Papiere und bestieg ein Taxi, das ihn zum Flughafen Scheremetjewo brachte. Er nahm einen Linienflug nach Kuba, von wo aus er in die USA gelangte. Andropow schäumte vor Wut, war aber nicht in der Lage den oder die wahren Verantwortlichen auszumachen. Schließlich mussten zwei Abteilungsleiter zurücktreten und ein General wurde degradiert. Jewgenji gelang es zu verhindern, dass Myschinski vom Nobelpreis-Komitee für den Friedensnobelpreis nominiert wurde, wofür er befördert und mit einem Orden geehrt wurde.
Nikolai arbeitete während dieser Zeit in Ostdeutschland. Er war zu einem der besten »Anwerber« des KGB in der DDR geworden, so dass sein oberster Chef, General Simranow, befahl, ihn auch für die Anwerbung Westdeutscher einzusetzen.
Als Zielpersonen dienten ihm mehrere Westdeutsche, die entweder Verwandte in der DDR hatten oder Geschäftsbeziehungen dorthin pflegten. Eine von ihnen war Hildegard, eine Lehrerin aus West-Berlin. Sie besuchte regelmäßig ihre Tante in einem der Nachbarorte von Bernau. Nikolai ließ sich routinemäßig die Einreiselisten vorlegen und hatte Hildegard ausgewählt, weil sie relativ häufig in den Osten kam, allein erziehende Mutter und Beamtin war. Als sie eines schönen Herbsttages mit ihrer Tante spazieren ging, stiftete Nikolai zwei Volkspolizisten an, die Reisedokumente von Hildegard zu kontrollieren, zu beanstanden und sich anzuschicken, die Frau auf der Stelle zu verhaften. Zufällig kam gerade in diesem Moment ein Oberleutnant des KGB vorbei, der aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse den Disput mitbekam. Er ließ sich die Papiere zeigen und erklärte, sie wären vollkommen in Ordnung. Er befahl den Vopos, sich bei der Frau zu entschuldigen, und ließ sie dann wegtreten. Die zwei Frauen flossen über vor Dankbarkeit und luden Nikolai sogleich zu Kaffee und Apfelkuchen in das Häuschen von Tante Agnes ein. Dort kamen sie ausgiebig ins Gespräch und Nikolai zeigte sich tief beeindruckt davon, wie sich eine allein stehende Frau mit einem Kind in der harten und kalten Welt des Westens durchschlug. Hildegard erklärte, wie sehr sie die russische Kunst und Kultur schätzte. Besonders die Literatur hatte es ihr angetan, sie hatte sogar schon begonnen, Krieg und Frieden im russischen Original zu lesen.
Bei ihrem nächsten Besuch trafen sie sich wieder und Nikolai schenkte ihr eine wertvolle russische Ausgabe von Anna Karenina. Hildegard war so beeindruckt, dass sie das Geschenk zunächst nicht annehmen wollte. Nach einer halben Stunde zäher Verhandlungen willigte sie ein, bestand aber darauf, Nikolai aus dem Westen ein Dankeschön zu schicken. Nikolai verlangte nur eine Stange amerikanische Zigaretten und vielleicht ein paar Zeilen auf Russisch, in denen sie aber bitte nichts von dem Buch erwähnen sollte, schließlich war Tolstoi ein imperialistischer Schriftsteller.
Mit dieser Erkenntlichkeit an einen KGB-Offizier wurde Hildegard erpressbar. Wären ihre Zeilen dem westdeutschen Verfassungsschutz in die Hände gefallen, wäre sie mit Sicherheit aus dem Schuldienst geflogen und hätte als Lehrerin kaum noch eine halbwegs bezahlte Arbeit gefunden.
Der Barockhof der Nürnberger Stadtbibliothek war pittoresk wie immer. Zwischen erhabenen Fensterbögen und Kreuzgängen hatte das Zeitungscafé Hermann Resten seinen Außenbereich eingerichtet. Abgesehen von den obligatorischen Spatzen konnte man hier ungestört einen ganzen Tag verbummeln und stundenlang die internationale Presse lesen. Die alten Mauern spendeten wohltuenden Schatten und schnitten ein harmonisches Rechteck aus dem unwirklich blauen Himmel. Renan konnte ihren Blick nicht von der Wespe ablenken, die seit Minuten Herbsts Kopf umkreiste, ohne dass dieser davon Notiz zu nehmen schien. Jetzt sticht sie zu, dachte sie, als sich das Insekt auf seiner Glatze niedergelassen hatte, und war fast etwas enttäuscht, als nichts passierte. Dass das Tier schließlich unverrichteter Dinge
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