Albert Schweitzer
ihm, von einem viel wirksameren Geschoss Gebrauch zu machen und es auf eine viel größere Entfernung zu versenden.“ Dem so zum „Übermenschen“ gewordenen Menschen attestierte Schweitzer eine verhängnisvolle geistige Unvollkommenheit: „Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. Dieser bedürfte er, um von der von ihm errungenen Macht nur zur Verwirklichung des Sinnvollen und Guten, nicht auch zum Töten und Vernichten Gebrauch zu machen. Darum sind ihm die Errungenschaften des Wissens und Könnens mehr zum Verhängnis als zum Gewinn geworden.“ Hier greift Schweitzer den Gedanken auf, den er schon in seiner Kulturphilosophie entwickelt hatte: Die verhängnisvolle, sich vergrößernde Kluft zwischen materiell-technischem Fortschritt einerseits und ethisch-geistiger Stagnation oder gar Rückschrittlichkeit andererseits ist Schuld am Niedergang der Kultur und hat uns in die lebensbedrohenden Gefahren des Atomzeitalters manövriert.
Für Schweitzer war es klar, dass allein der Geist, die Besinnung auf eine alles Leben achtende und umfassendeEthik die Menschheit aus diesen Gefahren wieder herausführen kann. Er war aber realistisch genug, diesen Gedanken mit der skeptischen Frage zu verbinden: „Kann aber der Geist wirklich ausrichten, was wir ihm in unserer Not zutrauen müssen?“ Schon die Wortwahl offenbart wieder den „pessimistischen Optimisten“: In der Frage schwingt einerseits die bange Vermutung mit, der Mensch könne überfordert sein, sich zu dieser notwendigen geistigen Haltung zu bekennen, andererseits steht da die nüchterne Erkenntnis, dass es gar keinen anderen Weg als diesen gibt. Wir
müssen
dem Geist in dieser prekären Situation zutrauen, dass er diese Besinnung ausrichten kann, es bleibt uns gar keine andere Wahl! Darauf setzte Schweitzer seine Hoffnung. Als ermutigend empfand er, dass seine Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben weltweit immer mehr Beachtung fand. So konnte er in seiner Nobelpreisrede sagen: „Man darf von seiner [des Geistes] Kraft nicht gering denken. Er ist es ja, der sich in der Geschichte der Menschheit betätigt. Er wirkt die Humanitätsgesinnung, aus der aller Fortschritt zur höheren Daseinsweise kommt. In der Humanitätsgesinnung sind wir uns selber treu; in ihr sind wir fähig, schöpferisch zu sein. In der Gesinnung zur Inhumanität sind wir uns selber untreu und damit allem Irren ausgeliefert.“ Und wenig später heißt es behutsam optimistisch: „Wir wagen wieder, uns an den ganzen Menschen, das heißt an sein Denken und sein Empfinden, zu wenden und ihn anzuhalten, Kenntnis von sich selberzu nehmen und sich selber treu zu sein. Wir wollen wieder unser Vertrauen in das, was in seinem Wesen liegt, setzen. Erfahrungen, die wir machen, bestärken uns darin.“
Seine vielbeachtete Rede endete mit einem Wunsch, der zugleich ein eindringlicher Appell an die politischen Verantwortungsträger wie an jeden Einzelnen war: „Mögen die, welche die Geschicke der Völker in den Händen haben, darauf bedacht sein, alles zu vermeiden, was die Lage, in der wir uns befinden, noch schwieriger gestalten und uns noch weiter gefährden könnte, mögen sie das wunderbare Wort des Apostels Paulus beherzigen: ‚Soviel an euch liegt, habt mit allen Menschen Frieden.‘ Es gilt nicht nur den Einzelnen, sondern auch den Völkern. Mögen sie in dem Bemühen um die Erhaltung des Friedens miteinander bis an die äußerste Grenze des Möglichen gehen, dass dem Geiste zum Erstarken und zum Wirken Zeit gegeben bleibe!“
Von noch größerer Wirkung waren die vier Ansprachen, die Schweitzer am 23. April 1957 („Appell an die Menschheit“) sowie am 28., 29. und 30. April 1958 über Radio Oslo in die Welt hinaussandte und die in der Literatur unter dem Titel „Friede oder Atomkrieg“ bekannt wurden.
In der ersten dieser Ansprachen, in der Schweitzer eindringlich vor den schon bestehenden Gefahren und den noch zu erwartenden Folgen atomarer Versuchsexplosionen hinwies, gab er seiner festen Überzeugung Ausdruck,im Interesse einer überwältigenden Mehrheit der Menschheit zu sprechen, deren Meinung es bei der Entscheidung politischer Verantwortungsträger zu berücksichtigen gelte: „Eine öffentliche Meinung dieser Art bedarf zu ihrer Kundgebung keiner Abstimmungen und keiner Kommissionsbildung. Sie wirkt durch ihr Vorhandensein. Kommt es zur Einstellung der Versuche mit Atombomben, so ist dies die
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