Albertas Schatten
heraus, daß es wahr ist. Ich habe jede vorhandene Spur verfolgt, beinahe bis hin zur Lektüre der Bücher unserer beiden Autorinnen. Vielleicht finden Sie dort etwas. Ich nehme an, daß es diese Hoffnung ist, die Charlie bewogen hat, einen literarischen Spezialisten zu engagieren.«
»Das möchte ich aber wirklich bezweifeln. Charlie hat alle Bü-
cher gelesen. Ich glaube eher, daß sie jemanden sucht, der frischen Wind in die Sache bringt und nicht zu viel kostet; jemand, der ihr nicht das Gefühl gibt, völlig übergeschnappt zu sein. An wen könnten sie sich noch wenden, wenn ein Mann von Ihrer Gründlichkeit und Ihrem Wissen versagt?«
»An eine Professorin, natürlich«, sagte Richard. »Dürfte ich wohl die Kekse aufessen? Sie sind so gut.«
»Bedienen Sie sich«, sagte Kate. »Und die Kresse-Sandwiches sollten wir auch nicht liegen lassen. Noch etwas Tee?« Richard nickte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehen wir die Sache noch einmal durch«, sagte Kate. »Ich werde versuchen, nicht allzu weitschweifig zu sein. Alles in Albertas Tagebuch hat sich als richtig erwiesen; das haben Sie ja überprüft. Was ist übrigens mit den Leuten in Ohio?«
»Das ist ziemlich klar. Albertas Schulakten sind noch da und auch die Unterlagen über das Haus, das die Familie besaß. Der Vater ist tot, aber die Mutter und die beiden anderen Töchter waren schnell gefunden. Ich habe sie aufgesucht.«
»Sie waren wirklich gründlich. Muß ich annehmen, daß da nichts zu finden war?«
»Nichts von besonderem Interesse, obwohl Sie es vielleicht anders sehen. Alberta ist mit achtzehn von zu Hause fortgegangen und niemals zurückgekommen. Sie hat eine lose Verbindung aufrechter-halten; die Schwestern sprachen mit gedämpfter Zuneigung von ihr –
eigentlich eher mit Scheu. Die Mutter sagte nur, sie sei nie mit ihr zurechtgekommen, so sehr sie sich auch bemüht habe. Ich glaube ihr das. Alberta schrieb Karten zu Weihnachten und beantwortete Hoch-zeits- und Geburtsanzeigen und so weiter. Sie war höflich, aber des-interessiert. Für mich war nirgends ein Motiv erkennbar.«
»Wie ist es mit Geld? Geld ist immer ein Motiv.«
»Als der Vater starb, hinterließ er den Grundbesitz seiner Frau mit der Maßgabe, daß bei deren Tod das Haus zu je einem Drittel an seine Töchter fallen sollte. So ist die Lage der Dinge, wenn sie stirbt.
Vielleicht könnten die anderen beiden sich verbünden und Alberta töten wegen eines Drittels von hunderttausend Dollar, das sie irgendwann in der Zukunft bekommen würden, aber ich sehe das nicht so.«
»Das wäre auch schwierig«, stimmte Kate zu.
Richard stellte seine Tasse mit einer Geste ab, die eine gewisse Endgültigkeit ausdrückte. »Ich glaube, das wäre wohl in etwa alles«, sagte er, »oder fällt ihnen noch etwas ein? Ich möchte Sie nicht drängen.«
»Wann genau ist Alberta verschwunden?« fragte Kate. »Charlies Briefe hören auf, als sie und Charlie Sinjin besuchen wollen. Haben sie sie wirklich getroffen?«
»Entschuldigen Sie; ich dachte, Sie wüßten alles darüber. Ich ha-be festgestellt, daß das oft in Gerichtsverhandlungen vorkommt.
Jeder nimmt an, daß jeder andere etwas ganz Offensichtliches weiß, und wenn sich herausstellt, daß es nicht der Fall ist, ist man ›gelack-meiert‹ (das habe ich auch bei George aufgeschnappt).«
»Das ist ein raffinierter Trick in Kriminalromanen«, fügte Kate hinzu. »In meinem Lieblingsbuch spielen Musiker eine Rolle – die meisten sind Amateure, aber es sind auch ein paar Profis dabei, vor allem ein berühmter Dirigent –, und niemand kommt auf die Idee, dem Detektiv zu sagen, daß Mozart in der Symphonie, die sie gespielt haben, gar keine Klarinettenstimme notiert hat. Natürlich war der Klarinettist der Täter.«
Richard lächelte. »Nachdem sie bei Sinjin waren, sind Charlie und Alberta getrennte Wege gegangen. Sie sollten sich um zwei am Paddington-Bahnhof treffen. Soweit wir wissen, hat niemand Alberta jemals wiedergesehen.«
»Oder etwas von ihr gehört.«
»Nein. Charlie hat von ihr gehört; eine Nachricht, die Charlie bei ihrer Rückkehr ins Hotel vorfand und die besagte, daß sie es nicht geschafft habe und daß es ihr leid täte. Es sah aus, als wäre sie im Taxi hingekritzelt worden.«
»Haben Sie die Nachricht?«
»Nein. Charlie sagt, sie sei so außer sich gewesen, daß sie sie einfach zerknüllt habe.«
»Hat Charlie Ihnen etwas über ihren und Albertas letzten Besuch bei Sinjin erzählt?«
»Ein wenig. Sie
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