Albertas Schatten
die Liste beiseite und betrachtete die anderen Gegenstände. Es war wenig genug, was von einem Leben übrig blieb. Führte sie jetzt irgendwo ein anderes Leben? War sie vielleicht dorthin verschwunden? Wartete etwa Cyril – ganz und gar nicht tot – in einer einsamen Hütte im finstersten Wales auf sie? Auch wer für Romantik absolut nichts übrig hat, sollte nicht vergessen, daß das Leben selbst gelegentlich romantisch ist, dachte Kate bei sich: Man denke nur an die Damen von Llangollen. Sie ging die Papiere durch; ordentliche Stapel von Rechnungen und Quittungen und ein Ordner, in den Alberta alles eingeheftet hatte, was in keine andere Rubrik paßte. Kate hatte selbst solch einen Ordner mit dem Etikett DIV. für »Diverses«.
Es waren Zeitungsausschnitte, die Alberta aufbewahrt hatte, keiner ließ auf den ersten Blick wilde Spekulationen zu; Kate legte sie daher zur späteren Prüfung zur Seite. Als sie ganz in Gedanken darin blätterte, fand sie ein Stück gefaltetes Plastik, knapp zehn mal fünf Zentimeter, mit einer auf der Rückseite befestigten Sicherheitsnadel.
»Was glauben Sie wohl, wo sie das her hat?« fragte Kate sie. »Was ist das überhaupt, und warum hat sie es aufgehoben?«
»Vielleicht dachte sie, sie könnte es eines Tages nochmal brauchen«, meinte Ted. »Sie hat nicht wahllos Dinge aufbewahrt, aber sie hat auch nichts unüberlegt weggeworfen.«
»Vielleicht«, sagte Kate. »Es erinnert mich an etwas, aber mir fällt nicht ein, an was. Ich werde es eben auch mitnehmen und dar-
über nachdenken.« Sonst bot die Kiste nichts von besonderem Interesse, auch nicht demjenigen, der wie wild auf der Suche nach An-haltspunkten war. »Unsere einzige wirkliche Hoffnung bleibt das Studium von Charlotte Stantons Werk«, sagte Kate, als sie ihre Suche beendet und sich wieder hingesetzt hatte. »Zum Glück haben wir für ihr Werk eine Expertin. Es ist schon merkwürdig, wie wenig Alberta von ihrem Leben zurückgelassen hat, obwohl es, wie ich ganz stark vermute, besonders reich und erfüllt war. Die meisten von uns sammeln im Laufe ihres Lebens so viel unnützes Zeug an.«
»Sie war eine bemerkenswerte Persönlichkeit«, sagte Ted. (Kate spürte, daß er nach der richtigen Bezeichnung gesucht hatte und nun mit diesem Wort herauskam.) »Wenn wir Ihnen irgendwie behilflich sein können, lassen Sie es uns wissen. Und wenn Sie irgendwo ihr Versteck ausfindig machen, sagen Sie ihr, daß sie immer bei uns arbeiten kann und das Haus auf sie wartet. Die Kinder vermissen sie.
Sogar die Hunde vermissen sie.«
»Wir alle vermissen sie«, sagte Jean, als Kate sich zum Gehen fertig machte. »Sie sagen uns doch Bescheid, wenn Sie etwas von ihr hören, nicht wahr? Irgend etwas!«
Kate versprach es, als sie sich verabschiedete, allerdings ohne große Hoffnung, daß es viel zu berichten geben würde; höchstens irgendwelche literarischen Dinge über eine Frau, die nicht einmal Albertas richtige Tante war. Kate konnte Mr. Fothingales Frustration sehr gut nachempfinden.
8
D en folgenden Tag – es war ein Sonntag – brachte Kate mit der Vorbereitung ihrer Vorlesungen zu, abgesehen von einer Stunde, in der sie über das Verschwinden von Alberta Ashby nachgrübelte.
Schließlich ging sie zu Reed, um sich seine Kommentare zu ihren Schlußfolgerungen anzuhören. Sie umriß die ganze Angelegenheit, indem sie ihm eine Zusammenfassung von Albertas Tagebuch, Charlies Briefen und Mr. Fothingales fruchtlosen Nachforschungen gab.
»Ich nehme nicht an, daß irgend jemand auf die Idee gekommen ist, die Polizei zu benachrichtigen; sie hat bei der Suche nach vermißten Personen immerhin eine gewisse Routine von mittlerer Effi-zienz.«
»Fothingale sagte, sie hätten die Polizei benachrichtigt«, sagte Kate. »Es ist nichts dabei herausgekommen. Ted hat mit Charlies Einverständnis Alberta vermißt gemeldet, aber offensichtlich war die Polizei der Meinung, daß Alberta einen besseren Job gefunden hat und einfach abgehauen ist. Sicher, aus der Sicht der Polizei hat sie nichts „Wichtiges zurückgelassen.«
»Ich vermute aber, daß sie etwas zurückgelassen hat, was für jemand anderen von Bedeutung sein könnte.«
»Da du das jetzt sagst, fällt mir ein, daß sie dieses Ding hier zu-rückgelassen hat«, sagte Kate und lächelte ihn an. »Ich erwähne das nur, weil ich nicht dahinterkomme, was es ist. Irgend etwas klingelt in meinem Kopf, aber ohne konkretes Ergebnis.« Sie hielt ihm das gefaltete Stück Plastik mit der
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