Albertas Schatten
Büro eines großen Verlages oder einer Anwaltskanzlei; sie nimmt zwei Etagen ein, ist mit den neuesten elektronischen Geräten ausgestattet und mit dem Besten, was moderne Innenarchitektur zu bieten hat. Und auch hier stolpert man, wie in ähnlichen Unternehmen, beim Verlassen des Fahrstuhls über eine allgegenwärtige Empfangsdame. In Anwaltskanzleien und Verlagshäusern ist es üblich, daß diese Gestalt weiblich einladend wirkt und zugleich so will-kommenheißend wie ein Wachhund. Die MLA hat Mitglieder und keine Klienten oder Kunden, dementsprechend ist diese Position mit einer fröhlich wirkenden Frau besetzt, die jedem, der ihr gegenüber-tritt, gute Absichten unterstellt – wenn auch nicht immer guten Willen –, denn sogar Mitglieder können sich beschweren. Kate fühlte sich zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Erfahrungen mit diesen auf Hochglanz polierten Büros nicht sofort wie ein Steuerprüfer oder ein Vertreter, der eine tausend Seiten dicke Biographie von Calvin Coolidge verkaufen will.
»Hallo«, sagte die Empfangsdame. »Was kann ich für Sie tun?«
»Kann man etwas über die Kongreßprogramme der letzten Jahre erfahren?«
»Nehmen Sie Platz«, sagte die Empfangsdame. »Ihr Kleid gefällt mir. Es wird gleich jemand kommen, der Ihnen weiterhilft.«
Kate setzte sich und betrachtete die ausliegenden Veröffentlichungen. Es hatte den Anschein, daß sich diese Organisation verle-gerisch betätigte, ohne dabei in die schlechten Angewohnheiten normaler Verlagshäuser zu verfallen. Es ist eigenartig, dachte Kate, daß man in New York ständig in andere Welten hineinstolpert, von deren Existenz man nichts gewußt hat und die sich mit großer Energie zu großem Einfluß entwickelt haben, ohne daß man sich dessen bewußt ist. Kann ich deshalb nirgendwo sonst leben? Braucht ein erfülltes Leben die Möglichkeit von Überraschungen?
Die Frau, die sich Kate in diesem Augenblick vorstellte, war offensichtlich schon vor langer Zeit zu dem Schluß gekommen, daß das Leben – zumindest in diesem Büro – überwiegend aus Überraschungen bestand, und zwar meist unliebsamen. In ihrem Gesicht drückten sich auf schöne Weise Vorsicht und Interesse zugleich aus.
»Sie hatten eine Frage zu unseren Kongressen?« fragte sie und setzte sich zu Kate. Sie hatte ein nettes Lächeln.
»So ungefähr. Ich frage mich, ob Sie mir helfen können. Ich hätte gern gewußt, ob es zufällig bei einem Kongreß der letzten Jahre ein Seminar über Charlotte Stanton, die Romanautorin, gegeben hat.
Wenn Sie mich jetzt in die Bibliothek schicken, bin ich Ihnen nicht böse. Ich fürchte, ich gehöre zu der unausrottbaren Spezies der ›We-gabkürzer‹, was fast immer bedeutet, daß andere die Arbeit haben.«
»Das macht gar nichts«, sagte die Frau und erhob sich mit einer Erleichterung, die erkennen ließ, daß sie die Aufforderung erwartet hatte, aus gewichtigen Gründen, den nächsten Kongreß in Terre Haute, Indiana, abzuhalten. »Bitte, folgen Sie mir.«
Sie führte Kate auf labyrinthartigen Wegen zu ihrem eigenen Bü-
ro, in dem Regale mit Reihen von MLA-Journalen standen. Die meisten waren blau. »Die braunen Nummern erscheinen zweimal im Jahr«, erklärte Elmira (so hatte sie sich vorgestellt); »im September mit einem Mitgliederverzeichnis und im November mit dem Kongreßprogramm. Sie suchen nach einem Kongreß der letzten Jahre?«
»Nicht einmal das weiß ich«, sagte Kate. »Vielleicht sollten wir mit 1980 oder 1981 anfangen.«
»In diesem Fall nehmen wir alle Kongreßprogramme der achtziger Jahre heraus und sehen unter dem Punkt ›Themenverzeichnis aller Kongresse‹ nach«, sagte Elmira mit einer geübten Fröhlichkeit, die in Kate ein Schuldgefühl hervorrief – sie hätte eben doch zur Bibliothek gehen sollen.
»Und sehen einfach nach, ob Stanton, Charlotte, verzeichnet ist«, schloß Kate hoffnungsvoll.
»Nicht ganz so einfach. Es sind thematische Stichworte in einem weitergefaßten Sinn, leider. Wenn Sie zum Beispiel wissen wollen, ob es ein Seminar über ›Intertextuelle Wiederholung: Der Gebrauch von Verdoppelungen und Reiterativa‹ gegeben hat, so würden Sie das unter dem Untertitel ›Theorie und kritische Beurteilung der Literatur‹ finden; hier ist dann die Nummer für weitere Einzelheiten angegeben, wie z.B. Namen der Referenten, Veranstalter des Seminars und die Adressen, an die Sie sich wenden können, wenn Sie Kopien der Referate brauchen«, sagte Elmira, während sie rasch ein Journal
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