Albertas Schatten
irgendwie helfen? Da ich ein Mensch bin, der dich gut kennt, vermute ich, daß es um Alberta geht.«
»Glaubst du, es ist ein Zeichen für eine glückliche Ehe, wenn man weiß, wann der andere bereit ist zu sprechen?«
»Um ehrlich zu sein, glaube ich eher, daß es ein Zeichen für eine gute Freundschaft ist. Gelegentlich sind auch Eheleute Freunde.«
»Es ist interessant, wie viele Freunde Alberta hatte; als ich zum ersten Mal ihr Tagebuch las, und sie sagt, nachdem sie auf die Farm gekommen ist: ›Ich habe einen Freund gefunden‹, dachte ich: ein Mensch ohne Freunde.
Aber es gab viele Freunde in ihrem Leben, einen nach dem anderen; Alberta hatte von Kindheit an die Gabe zur Freundschaft.«
»Und keiner der Freunde weiß, wo sie ist.«
»Genau das habe ich auch in Kalifornien gesagt, Reed. Glaubst du, daß das wahr ist, was man über die großen Geister sagt?«
»Ich glaube, wahr ist, daß wir vielleicht nicht alle ihre Freunde kennen. Die Tatsache, daß du sie aufgetrieben hast, macht sie nicht zu den einzigen Mitgliedern eines exclusiven Clubs.«
»Aber ich muß mit den Fakten arbeiten, die ich kenne.«
»Zugegeben. Aber es gibt große Abschnitte in Albertas Leben, von denen du gar nichts weißt. Wir wissen überhaupt nicht, wem sie begegnet ist, als sie auf der Farm arbeitete. Nur weil sie niemanden erwähnt, der nicht schon auf deiner Personenliste steht, nimmst du an, daß es auch niemanden gab. Ich fürchte, das könnte das Problem sein, Kate. Es geht hier nicht um ein Puzzle mit Vollständigkeitsga-rantie vom Hersteller.«
»Wenn ich aber alle Teile, die ich habe, zusammenlege, könnte ich zumindest feststellen, wohin die noch fehlenden Teile gehören könnten. Wenn es nur ein Stück Himmel ist, brauche ich mir keine Gedanken zu machen.«
»Es ist gefährlich, im Gespräch mit dir Metaphern zu gebrauchen; das habe ich sogar nach vielen Ehejahren noch nicht wirklich gelernt. Aber schließlich bist du ja ein Mensch, der mit der Literatur lebt.«
»Und da das ganze Leben aus Geschichten besteht, braucht man nur herauszufinden, in welcher Geschichte man sich gerade bewegt.«
»Nun nimm aber einmal an, es handelt sich um eine neue Geschichte, die nie zuvor erzählt worden ist!«
»Das ist es ja gerade, was mich beruhigt«, sagte Kate. »Hier haben wir zum Beispiel eine Freundschaft zwischen zwei Frauen, die beide mit demselben Mann in Beziehung stehen, sich aber nicht wie Aschenputtels Stiefschwestern verhalten. Eine neue Geschichte für dich.«
»Das klingt aufregend; werde ich in der richtigen Reihenfolge zu hören bekommen, wovon du überhaupt redest?«
»Hast du die ganze Nacht Zeit?« fragte Kate.
»Wie steht es mit dem Dinner?«
»Na ja, wenn du lieber essen als zuhören willst…«
»Laß es mich eher so sagen: Ich möchte essen und zuhören.«
»Es wird so ausgehen wie in diesem herrlichen Film ›Mein Dinner mit André‹: Viel gegessen haben sie bestimmt nicht.«
»Wenn du mir nun erzählen willst, wie du in die Sahara gegangen bist und mit einem japanischen Mönch Sand gegessen hast, will ich nichts mehr mit dir zu tun haben.«
»Ich habe Obst gegessen, auf eine Bucht geschaut, und ich habe auf einer Wiese durch das Laub eines Baumes ins Sonnenlicht gesehen.«
»Das klingt schon besser; laß uns noch einen Martini trinken und dann, wenn du in deiner Erzählung eine Atempause machst, in ein Restaurant gehen.«
»Reed, langweile ich dich auch bestimmt nicht mit diesen Geschichten?«
»Das ist das einzig Gewisse in diesem ungewissen Leben«, sagte Reed. »Ich weiß nie, was du erzählen wirst, ich weiß nur, daß es aufregend wird.«
»Ich glaube, in diesem Drink hätte ich gerne zwei Oliven«, sagte Kate.
Kate und Reed beendeten ihr Gespräch über die schwer erfaßbare Alberta im Restaurant bei einem Kaffee. (Soweit ihnen bekannt war, waren sie die beiden einzigen Menschen auf der Welt, die noch Martinis und koffeinhaltigen Kaffee tranken; befragt über dieses exzen-trische Verhalten, antworteten sie, sie hielten Alkohol und Koffein –
mit Maßen genossen – für sehr segensreich für die Menschheit; zumindest solange sich Diät-Trends noch alle paar Tage änderten.
Gewöhnlich setzte diese hochtrabende Antwort der Diskussion ein Ende, und das war schließlich auch beabsichtigt.)
»Wenn du nicht aufpaßt«, sagte Reed, »ist es plötzlich wieder Herbst, und Bruder Larry gibt wieder seine Party, und Lilian wird die Feststellung machen, daß Alberta nun seit einem Jahr
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