Alcatraz und die dunkle Bibliothek
er in deiner Nähe ist, wirst du vielleicht seine persönliche Aura erkennen, Alcatraz, aber das ist kein zuverlässiges Warnsignal, und es kommt wahrscheinlich zu spät. Verhaltet euch also ruhig und bleibt möglichst unsichtbar, alles klar?«
Ich nickte langsam.
Grandpa Smedry trat noch einen Schritt näher an mich heran und sagte leise: »Falls er euch wirklich über den Weg laufen sollte, behalte auf jeden Fall deine Okulatorenlinsen auf. Wenn du sie richtig einsetzt, können sie dich vor feindlichen Linsen schützen.«
»Und … wie mache ich das?«
»Dafür braucht man Übung, Junge. Und das kostet Zeit, die wir nicht haben! Aber wahrscheinlich kommt es sowieso nicht dazu. Versuch einfach, dich von allen Räumen fernzuhalten, die schwarz glühen, klar?«
Wieder nickte ich.
»Also dann«, wandte Grandpa Smedry sich wieder an die ganze Gruppe. »Die Bibliothekare werden eine Ewigkeit brauchen, um das Chaos in der Eingangshalle zu beseitigen. Wenn wir Glück haben, bemerken sie die kaputte Tür erst, wenn wir schon wieder weg sind. Eine Stunde! Und jetzt Beeilung, bitte. Wir sind spät dran!«
Damit drehte Grandpa Smedry sich um und ging zügig den leeren weißen Korridor hinunter. Quentin winkte uns noch einmal zu. »Steckrübe, Feuer über dem Erbe!«, rief er und stürzte dem alten Okulator hinterher.
Sing und Bastille drehten sich um und sahen mich an. Sieht fast so aus, als ob … ich jetzt das Kommando hätte, dachte ich überrascht.
Das war ein seltsames Gefühl. Ja, ich weiß, Grandpa Smedry hatte gesagt, dass ich meine Gruppe anführen sollte. Ich hätte also nicht überrascht sein müssen, mich in dieser Lage wiederzufinden.
Aber es ist nun einmal die grausame Wahrheit, dass ich nie der Typ war, dem man irgendeine Art von Kommando überlassen hätte. Pflichten dieser Art werden gewöhnlich der Sorte Jungen und Mädchen übertragen, die Äpfel ausliefern, die Fragen der Lehrer beantworten und ständig lächeln. Führungspositionen gehen nun einmal nicht an die Jungen, deren Pulte zusammenbrechen und die regelmäßig beschuldigt werden, gemeine Streiche auszuhecken, indem sie die Türklinke der Schülertoilette entfernen, oder die unbeabsichtigt dafür sorgen, dass ihrem Freund die Hose runterrutscht, während der gerade etwas an die Tafel schreibt.
Die Nummer habe ich nie wieder hingekriegt, egal, wie oft ich es versucht habe.
»Äh, ich schätze, wir sollten da langgehen«, sagte ich nun und zeigte den Gang entlang.
»Schätzt du, ja?«, fragte Bastille ausdruckslos und reichte Sing seine Sporttasche. Sie zog eine Sonnenbrille – oder Kriegerlinsen, wie die anderen sie nannten – aus der Jackentasche und setzte sie auf. Dann machte sie sich kommentarlos auf den Weg, die Handtasche griffbereit über der Schulter.
Ich frage mich, ob sie gehorchen würde, wenn ich ihr befehle, umzukehren und stattdessen Grandpa zu folgen … Ich kam zu der Erkenntnis, dass es wohl höchst unwahrscheinlich wäre.
»Sag mal, Alcatraz«, begann Sing, als wir hinter Bastille herliefen. »Was hat diese Schleife um meinen Knöchel eigentlich genau zu bedeuten?«
Stirnrunzelnd betrachtete ich seinen Fuß. »Die Bandage?«
»Oh, das ist es also? Man nennt es Erste Hilfe, richtig?«
»Ja … warum sonst sollte jemand deinen Fuß so einwickeln?«
Sing verrenkte den Hals, als er versuchte, im Laufen den Verband zu inspizieren. »Keine Ahnung«, gab er dann zu. »Ich dachte, es könnte vielleicht der erste Schritt in irgendeiner Art von Werbungsritual sein …« Er warf mir einen hoffnungsvollen Blick zu.
»Nein, ganz sicher nicht.«
»Schade«, seufzte Sing. »Sie war wirklich hübsch.«
»Solltest du dir über so etwas überhaupt Gedanken machen? Ich meine, du bist Anthropologe, du erforschst Kulturen. Darfst du dich denn mit den ›Eingeborenen‹ einlassen, denen du begegnest, und dich in ihre Bräuche einmischen?«
»Was? Aber natürlich dürfen wir das! Deshalb sind wir doch hier, um uns einzumischen! Immerhin versuchen wir, die Herrschaft der Bibliothekare über die Länder des Schweigens zu brechen.«
»Warum lasst ihr die Leute nicht einfach ihr Leben leben, und ihr lebt eures?«
Sing war entsetzt. »Alcatraz, die Menschen in den Ländern des Schweigens sind doch nichts anderes als Sklaven! Sie werden gezwungen, in Unwissenheit zu verharren, und müssen mit den primitivsten technologischen Einrichtungen leben! Außerdem müssen wir doch irgendetwas tun, um uns zu wehren. Im Königskonklave werden
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