Alchemie der Unsterblichkeit
aus, die bis zur Decke von randvollen Bücherregalen bedeckt wurden. Die Luft war kühl und trocken. Im Hintergrund flackerte ein Feuer im Kamin, um den herum mehrere gemütlich aussehende Sessel und ein kleiner Lesetisch, der sich unter der Last von Zeitungen und Büchern bog, gruppiert waren. Icherios stand ehrfurchtsvoll vor den Regalen. Kaum wagte er, einen der dicken Wälzer zu berühren. Bibliotheken stellten für ihn eine Art Heiligtum dar. Andere Menschen gingen in die Kirche, er pilgerte zu den Büchern. Zu seinen liebsten Kindheitserinnerungen gehörten die Besuche in alten Klöstern und ihren umfangreichen Buchsammlungen. Würde ihn nicht seit seiner Jugend die unbändige Neugierde antreiben, die Welt erforschen und ihre Mechanismen verstehen zu wollen, hätte er sich für immer unter einem Stapel Bücher verkrochen und wäre nie wieder hervorgekommen. Carissima bemerkte seine Freude. »Es steht dir frei, jedes Buch zu lesen und mit in deine Gemächer zu nehmen.«
Icherios strahlte sie ein. »Danke. Das muss das Schönste an der Unsterblichkeit sein. Ihr habt genug Zeit, um alles zu lesen, was je geschrieben wurde.«
Carissimas Schultern sanken herab. »Viel schöner ist das Leben zu leben, anstatt nur von ihm zu lesen. Ich werde heute Abend noch einmal nach dir schauen.« Sie verließ die Bibliothek und schloss sorgfältig die Tür hinter sich.
Icherios verbrachte eine Stunde damit, sich einen Überblick über die Bücher und ihre Sortierung zu verschaffen. Von Gedichten über Abenteuerromane und Liebesgeschichten reihten sich auch zahlreiche wissenschaftliche Abhandlungen in den aus dunklem Kirschholz gefertigten Regalen. Normalerweise hätte Icherios seine helle Freude an der großen Auswahl an Büchern gefunden, doch jetzt fand er keines, das ihm Aufschluss über die Pläne des Mörders zu geben vermochte. Trotzdem zog er einige alchemistische Lehrwerke hervor und blätterte sie im Sessel durch. Sein Magen knurrte. Er traute sich nach Carissimas Warnung nicht, einfach aufzustehen und durch das Schloss zu wandern. In seine Studie vertieft vergaß er das Hungergefühl jedoch schnell wieder.
Er bemerkte den Fürsten erst, als dieser ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Wie ich sehe, sind Sie bei der Arbeit.« Sohon stellte ein Tablett mit Tee und einen Teller Gebäck auf den Tisch. »Ich habe Ihnen etwas zur Stärkung mitgebracht. Meine Artgenossen vergessen manchmal, dass Menschen Nahrung und Flüssigkeit brauchen.«
Icherios war von der ungewohnten Freundlichkeit überrascht. »Danke«, stotterte er verlegen.
Sohon beobachtete, wie Icherios sich Tee eingoss und an einem Keks knabberte. Wie alle geborenen Vampire faszinierten ihn die menschlichen Bedürfnisse. »Wissen Sie schon etwas Neues über die Pläne des Mörders?«
»Bisher fand ich keinen Hinweis, aber ich bezweifle, dass Loretta Selbstmord begangen hat.«
Sohon zog einen weiteren Stuhl heran und setzte sich zu ihm. »Wie kommen Sie darauf?«
»Es ist nicht mehr als ein Gefühl. Ist es nicht ein großer Zufall, dass erst die eine Tochter ermordet wird und sich die andere dann umbringt? Selbst wenn man annimmt, dass der Tod ihrer Schwester ein schwerer Schlag für sie war, so halte ich Loretta nicht für jemanden, der sich etwas antun würde. Vielmehr glaube ich, dass der Mörder es auf die Familie des Bürgermeisters abgesehen hat.«
Sohon starrte nachdenklich in das Feuer. »Zumindest unter der Annahme, dass der Ritualmörder und Maribelles Mörder ein und dieselbe Person sind.«
Icherios nickte. »Ich vermute, dass Loretta mit einer Droge oder einem alchemistischen Elixier beeinflusst wurde. Wer weiß, was man alles mit Hilfe des Lunalion bewirken kann. Haben Sie das Buch gelesen oder Auszüge davon?«
Sohon seufzte. »Leider nicht. Es bestand immer die Gefahr, dass die Gegenwart eines Nachfahren Balthasar erweckt.« Der Fürst wanderte vor dem Kamin auf und ab. »Wir müssen das Buch unbedingt wiederbeschaffen.«
Icherios faltete seine Hände, um ihr nervöses Spiel zu beenden. »Ich werde nicht eher ruhen, bis ich nicht den Mörder und das Lunalion gefunden habe.«
Sohon blickte ihn lange an. »Ich muss Ihnen etwas zeigen.« Er bedeute Icherios ihm zu folgen und führte ihn zu einer Regalwand in der Nähe der Eingangstür. Dort griff er mit seinen Fingern hinter einen Folianten und legte einen versteckten Hebel um. Sofort reagierte ein Mechanismus, und das Regal drehte sich in die Wand hinein, sodass seine Rückseite zum
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