Alchemie der Unsterblichkeit
war weit weg. Eiskalter, harter Stein. Ihre Finger klammerten sich am Fensterrahmen fest.
33
Vorwürfe
G
Ein gellender Schrei riss Icherios aus seinem komatösen Schlaf. Am vorherigen Abend hatte er der Versuchung des Laudanums nicht widerstanden. Er verstand sich nicht. Ging es ihm elend, arbeitete er und rührte die Droge nicht an, doch sobald er ein leichtes Hochgefühl verspürte, wollte er es unbedingt mit Laudanum verstärken.
Der furchtbare Schrei erklang erneut. Icherios kannte die Stimme: Es war das Hausmädchen. Seine Kopfschmerzen ignorierend stand er auf und eilte aus seinem Zimmer. Die Schreie kamen aus Lorettas Kammer. In Icherios breitete sich Angst aus. Das Feuer war heruntergebrannt, das Bett ungenutzt. Im Zimmer herrschte eisige Kälte. Eines der Fenster stand weit offen. Marie kauerte unter dem Fenstersims und schluchzte heftig. Icherios traute sich kaum, hinauszublicken. Er wusste, was er sehen würde. In seiner Erinnerung regte sich etwas. Hatte ihn nicht Loretta letzte Nacht besucht? Allmählich kehrten die Bilder zurück. Er sah sie um Hilfe flehen, doch er war zu müde gewesen, um es wahrzunehmen. Er beugte sich aus dem Fenster, die Augen fest zusammengepresst. Irgendwann brachte er es fertig, sie zu öffnen. Ein Keuchen entrang sich seiner Kehle. Loretta lag leblos auf der Straße. Die Augen starrten weit geöffnet ins Leere. Ihre blonden Locken lagen zu einem roten Teppich verklebt in einer Blutlache. Das weiße Nachthemd war nach oben gerutscht und entblößte ihre Schenkel. Icherios taumelte, dann rannte er hinunter. Er stieß dabei den Bürgermeister um, der in einen dicken Morgenmantel gehüllt aus seinem Zimmer trat. Auf der Straße begegnete ihm Sohon. »Ich habe Schreie gehört. Was ist geschehen?« Der Fürst war wie immer sorgfältig gekleidet. Die Ereignisse des vorherigen Tages hatten keine Spuren hinterlassen.
Icherios fragte sich, was er im Ort gemacht hatte, dass er die Schreie hatte hören können. Natürlich, er war wegen Loretta hier, und er spürte, wie ihm Tränen übers Gesicht liefen. Mit zitternden Händen deutete er auf die Seitengasse. Sohons Anwesenheit beruhigte ihn. Er wusste nicht, ob er es fertig brachte, zu Loretta zu gehen. Sohon verschwand in die Gasse, dann hörte man einen schmerzerfüllten Aufschrei. Arken riss die Haustür auf. In dem Moment kam der Vampir mit Loretta auf den Armen zurück. Das Antlitz des Bürgermeisters verzerrte sich vor Schmerz und Wut. »Wie konnte das passieren? Ist sie tot?«
Sohon nickte. Sein Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske erstarrt. »Was ist geschehen?«, fauchte der Fürst.
»Ich weiß es nicht.« Icherios erwog, ihnen von Lorettas Besuch zu berichten, doch er brachte es nicht über sich.
Maria schrie von oben herab. »Das Fenster stand offen, als ich sie fand. Sie muss irgendwann diese Nacht gesprungen sein.«
»Ich bringe sie weg.« Sohon hüllte Loretta in seinen Mantel.
Der Bürgermeister war zu erschüttert, um Einspruch zu erheben. Er setzte sich mitten auf die Straße und senkte den Kopf. Hilflos und frierend stand Icherios in der Morgendämmerung. Seine Schuldgefühle nahmen ungeahnte Ausmaße an. Vielleicht sollte er Lorettas Beispiel folgen, bevor er noch mehr Unheil verursachte.
Icherios wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als das Hausmädchen mit einer Decke herauskam, die sie um den Bürgermeister legte, ihre Augen waren tränenverquollenen. Kurz darauf kamen mitfühlende Nachbarn und führten Arken hinein. Um Icherios kümmerte sich keiner. Für ihn war aber eines sicher, er konnte nicht mehr in dieses Haus zurückkehren.
Der junge Gelehrte wanderte ziellos im Ort umher. Er wusste nicht weiter, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Die Kirchenglocken verkündeten die Mittagsstunde, als Carissima ihn fand. Gedankenverloren stand Icherios vor einer alten Hauswand und fuhr mit den Fingern jede einzelne Rille ab. Als sie ihn berührte, zuckte er zusammen. »Wir haben ein Zimmer im Schloss für dich herrichten lassen«, sagte sie sanft. Seine Hand hielt inne, langsam drehte er sich zu ihr um. Der Verstand kehrte in seine leeren Augen zurück und mit ihm der Schmerz. Er stöhnte auf. Er durfte sich jetzt nicht der Trauer hingeben. Erst musste er den Mörder fangen. Wut stieg in ihm auf. Er würde ihn mit nach Karlsruhe nehmen und ihn dort den Folterknechten übergeben.
Mit einer fast schon mütterlichen Geste legte Carissima den Arm um Icherios und führte ihn zum Schloss hinauf.
Weitere Kostenlose Bücher