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Alchemie der Unsterblichkeit

Alchemie der Unsterblichkeit

Titel: Alchemie der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Pflieger
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Kälte kroch in ihre Knochen, doch sie beachtete es nicht. Sie verlor den Kontakt zur Wirklichkeit. Es war nicht der Alkohol, der das auslöste. Dieses Gefühl kannte sie. Etwas anderes bemächtigte sich ihrer.
    Die Trauer um ihre Mutter, ihre Schwester und ihr eigenes Leben wurde übermächtig. Liebevoll, fast wie einen Freund, betrachtete sie den Brieföffner in ihrer Hand. Die Klinge war scharf, scharf genug, um sich damit die Pulsadern aufschlitzen zu können. Erschrocken ließ sie ihn fallen. Woher kam dieser Gedanke? Etwas schien von ihr Besitz zu ergreifen, und sie konnte nur hilflos zuschauen.
    Sie erinnerte sich, Maribelle war ermordet worden. Was, wenn ihr dasselbe widerfuhr? Icherios! Er war der Einzige, der ihr zu helfen vermochte, auch wenn er bei ihrer Schwester versagt hatte. Es gab Hoffnung!
    Schwankend richtete sie sich auf. Der Brieföffner glitzerte verführerisch im Schein der Lampen. Zwei tiefe Schnitte und der Lebenssaft würde aus ihr herausfließen und alles Leid mit sich nehmen. Keine Sorgen mehr um ein Leben voller Kälte.
    Hastig wandte sie sich ab, streifte einen Morgenmantel über und stolperte hinaus. Die wenigen Schritte zu Icherios’ Zimmer wurden zur Qual. Ihr Körper wollte nicht gehorchen. Immer stärker war sie versucht, die Klinge in sich zu rammen. Es schien ihr Jahre her zu sein, dass sie Icherios gedrängt hatte, sie nach Karlsruhe zu bringen. Hätte er es doch getan! Der Inspektor war kein schlechter Mensch, und unter seiner Verbohrtheit und Angst glaubte sie, ein gutes Herz zu erkennen. Er war weder grob noch gewalttätig wie ihr Vater; nicht so kalt und gefährlich wie Calan. Er vermochte ihr zwar nicht den Luxus zu bieten, den sie gewohnt war, aber sie verzichtete gerne darauf, solange sie nur geliebt wurde. Die erste Liebe seit dem Tod ihrer Mutter. Für Calan war sie nichts weiter als eine Trophäe und eine Möglichkeit, an noch mehr Macht und Reichtum zu gelangen. Manch eine Frau im Ort beneidete sie darum, von ihm umworben zu werden. Sie bildeten sich ein, das kalte Herz entfachen zu können, und gaben sich der Hoffnung auf eine ewige Romanze hin. Loretta stand zu fest in der Wirklichkeit, um zu glauben, dass sie die große Liebe des Fürsten war.
    Und doch hat dein wunderbarer Icherios dich betrogen, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Gleichzeitig blitzte wieder das Bild des Brieföffners vor ihren Augen auf.
    Endlich erreichte sie die Tür. Sie hielt sich nicht mit Klopfen auf, sondern trat direkt ein. Icherios lag auf dem Bett, lang ausgestreckt in seinem Nachtgewand. Die Decke lag halb auf dem Boden. Auf seiner Brust saß eine dicke, schwarze Ratte. Sie stürzte auf ihn zu, so gut es in ihrem verwirrten Zustand möglich war, und rüttelte ihn. Dabei schlug sie ihm aus Versehen ins Gesicht.
    Icherios blinzelte. »Was?« Er stotterte. Seine Pupillen waren geweitet und glasig. Er hatte keine Orientierung.
    Loretta wollte ihm erklären, was nicht mit ihr stimmte, doch über ihre Lippen kam nur ein gestammelter Hilferuf. Icherios nahm sie nicht wahr. Seine Augen blickten trüb ins Leere. Loretta versuchte es erneut, aber es wurde nicht besser. Der Inspektor sank zurück. Loretta ließ ihren Blick zu seinen alchemistischen Apparaturen und dann zu seinem Schreibtisch schweifen. Ein Fläschchen stand darauf. Sie hatte es vorher in seiner Tasche gesehen: Laudanum.
    Innerlich schluchzte sie auf, als sie begriff, dass er nicht in der Lage war, sie zu verstehen. Sie rappelte sich auf, ging in ihr Zimmer, schmiss mit der größten Willensanstrengung, die sie jemals vollbracht hatte, den Brieföffner aus dem Fenster und kauerte sich neben ihr Bett. Sie betete, dass die Nacht bald vorbeigehen würde. Tränen liefen ihr über das ausdruckslose Gesicht. Sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper. Immer wieder drängte es sie dazu, aus dem Fenster zu springen, aber sie wehrte sich. Dann wiederum fuhr es ihr durch den Kopf, dass sie sich aus dem Bettlaken einen Galgen bauen könnte. Es gab so viele Möglichkeiten, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Bestürzt verfolgte Loretta ihre Gedanken. Sie wollte schreien, doch sie war nicht in der Lage dazu. Irgendwann stand sie auf. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Trotzdem ging sie mit langsamen, zögerlichen Schritten zum Fenster und öffnete es. Das Mondlicht verband sich mit der Kälte der Nacht und umflutete ihren Körper. Sie spürte nichts. Sie sah hinunter und schrie im Geiste auf. Das Pflaster

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