Alchemie der Unsterblichkeit
ihnen Haarlocken abzutrennen und als Andenken mitzunehmen. Sobald sich seine Pläne erfüllt hätten, würde er seine Fantasien ausleben. Keiner konnte ihn jetzt noch aufhalten.
Das Haus des Flurhüters tauchte am Ende der Gasse auf. Die Fenster leuchteten hell, die Läden standen offen. Der Mörder schüttelte über so viel Leichtsinn den Kopf. Lynnart Kolchin verdiente seinen Posten als Amtsmann nicht. Er verdiente es nicht zu leben. Der Mörder presste sein Gesicht gegen das Fensterglas und beobachtete die Familie. Alle waren sie da: Lynnart, Eva und die kleine Kassandra. Heute war eine besondere Nacht. Er würde seine Tinktur vollenden und Rache nehmen. Zitternd holte er das lange Messer hervor. Er musste sich beruhigen, bevor er den Kolchins einen Besuch abstattete.
35
Vallentin
G
I cherios erwachte von einem lauten Krachen. Er verfluchte sich für seinen Leichtsinn, in Lorettas Nähe zusammenzubrechen. Als er seine Umgebung wieder wahrnahm, stand Carissima schützend vor ihm. Sie wendete den Kopf, um sich zu vergewissern, dass er noch lebte. Sie trug einen golddurchwirkten, königsblauen Brokatrock, der das blaue Leuchten ihrer Augen verstärkte. Loretta lauerte fauchend an der Wand, doch Carissimas Zorn hatte sie nichts entgegenzusetzen. »Wie kannst du es wagen einen Gast anzurühren?«, fuhr Carissima die neugeborene Vampirin an.
»Er trägt Schuld am Tod meiner Schwester!«
»Du weißt, dass das nicht wahr ist. Wo ist Calan? Ich dachte, er hätte dich in deinen Räumen zurückgelassen.«
»Ich bin nicht sein Eigentum!« Loretta zitterte am ganzen Körper vor Wut.
»Verschwinde, und lass dich nicht noch einmal in seiner Nähe blicken!«
»Du hast mir nichts zu befehlen!« Trotz ihrer Worte raffte Loretta ihre Röcke und eilte hinaus. Die Tür schlug mit einem lauten Knall hinter ihr zu.
Erst jetzt fiel Icherios auf, dass sie ein Amulett trug, dessen Form dem Fleck auf Chaelas Brust ähnelte. »Hast du die Kette gesehen? Es könnte dieselbe sein, die Chaela geraubt wurde.«
Carissima half ihm auf die Beine. »Bist du sicher?«
»Nein, aber ich habe eine Zeichnung angefertigt. Wenn ich das Amulett damit vergleichen könnte, wüssten wir es.«
Zögerlich nickte sie. »Ich werde es besorgen. Sprich sie nicht selbst darauf an. Sie ist nicht sehr gut auf dich zu sprechen.« Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie wirkte lebendig. Ihre Augen funkelten. Sie schien den Ärger zu genießen.
Carissima führte Icherios zum Bett und setzte sich neben ihn. Icherios fühlte Zuneigung in sich aufwallen. Sanft strich sie ihm über die Wange. »Konntest du etwas herausfinden?«
Icherios seufzte. »Ich weiß nun, dass ihr Vampire und Werwölfe von Hermes Trismegistos erschaffen wurdet. Das bestärkt mich in der Ansicht, dass der Mörder mit dem Blut eine Tinktur mischen will. Zu welchem Zweck kann ich noch nicht sagen.« Er ließ sich ins Bett zurückfallen. »Ich wusste nicht, dass sie mich so sehr hasst.«
Carissima legte sich neben ihn und stütze sich auf ihren Ellbogen ab. »Es wird vergehen. Wir Vampire empfinden anders. Du kannst dir unser Gefühlsleben so vorstellen: Es ist wie Wasser auf dem eine dicke Schicht Öl schwimmt, das es dämpft. Alles ist abgeschwächt, aber wann immer eine Emotion durchbricht, schießt sie in ungeahnte Höhen.«
»Und bei ihr ist es der Hass auf mich.«
»Bei jedem jungen Vampir bestimmt ein Gefühl das Handeln. Hass ist das Häufigste. Es vergeht nach einigen Tagen, sodass Ruhe einkehren kann. Zumindest in den meisten Fällen.« Bei dem Gedanken, Loretta könnte ihn für immer mit ihrem Hass verfolgen, fröstelte er. Carissima beugte sich zu ihm vor und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Icherios zuckte zurück.
Carissima schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln. »Du hast Angst vor Nähe.« Ihre Finger glitten an seinen Armen herunter und schoben sein Hemd hoch, sodass die vernarbten Handgelenke offen vor ihr lagen. »Es hängt mit diesen Malen zusammen.«
Icherios wollte eigentlich nicht darüber sprechen, doch etwas zwang ihn zu antworten. »Vor zwei Jahren starb mein Jugendfreund Vallentin. Er war nicht nur mein bester Freund, sondern auch mein einziger. Ich kann mich nicht erinnern, wie es dazu kam, aber ich wurde neben ihm gefunden. Sein Schädel war zerschmettert, mich konnte man retten. Seitdem werde ich verdächtigt, ihn umgebracht zu haben, aber es gibt keine Beweise dafür.«
»Und was glaubst du?«
Icherios drehte sich um und blickte aus dem Fenster.
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