Alchemie der Unsterblichkeit
Unwillkürlich fragte er sich, ob sie jemals den Wunsch verspürt hatte, Kinder zu bekommen. Unter ihrer geltungssüchtigen Oberfläche schien ein ganz anderer Mensch darauf zu warten, entdeckt zu werden. Forschend beobachtete er sie. Ihre Züge waren starr und traurig, solange sie sich unbeobachtet fühlte, doch wann immer sich ihre Blicke trafen, schenkte sie ihm ein freundliches Lächeln. »Ich habe dein Gepäck bereits packen und zur Feste bringen lassen.«
»Und meinen Versuchsaufbau?«
»Er wird wieder genauso aufgebaut, wie du ihn zurückgelassen hast.«
Carissima führte ihn in das Schloss, dann über die elegante Treppe hinauf in das erste Stockwerk. Ihre Füße versanken in einem dicken, roten Samtteppich. An den Wänden hingen dicht gereiht Lampen aus zartem Glas und Gemälde mit Porträts ihrer Vorfahren. Zahlreiche Fenster ließen das graue Tageslicht hinein. Carissima blieb vor einer kunstvoll verzierten, schmalen Tür stehen. »Du kannst hier wohnen. Wenn du etwas brauchst, sag Calan oder mir Bescheid. Wir besitzen keine Diener, jeder im Schloss erfüllt gewisse Pflichten. Ein ausreichender Vorrat an Feuerholz befindet sich in deinen Räumlichkeiten. Meleine wird für dich kochen, sie ist zwar ein Vampir, aber zu Lebzeiten war sie eine begnadete Köchin, und sie freut sich über jede Gelegenheit, einen Menschen bekochen zu können.« Carissima zwinkerte ihm zu. »Das ist nicht sehr häufig der Fall.« Dann wurde sie ernst. »Eine Bitte: Versuche Verletzungen zu vermeiden und halte dich nur in den Hauptgängen, deinen Gemächern und der Bibliothek auf. Manche der hier lebenden Vampire sind jung und unbeherrscht. Frisches Blut könnte sie zu Dummheiten verleiten.«
Icherios beschloss, sein Zimmer für die Nachtruhe sorgfältig abzuschließen und auch die Fenster nicht zu vergessen.
»Ich werde dich nun verlassen, um dir Zeit zu geben dich einzurichten. In einer Stunde hole ich dich ab, um dir die Bibliothek zu zeigen.« Carissima hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Ihre Fangzähne kratzten leicht über seine Haut. Dann wandte sie sich ab und rauschte mit ihren knisternden Röcken davon.
Icherios blieb eine Minute vor der Tür stehen und atmete tief durch. Schließlich trat er in sein neues Zimmer. Die Größe und Pracht, die ihn erwartete, überraschte ihn. Selbst auf dem Anwesen seines Vaters wäre solch verschwenderischer Prunk niemals anzutreffen gewesen. Helle, dicke Teppiche bedeckten den Boden, die Tapete bestand aus goldenem Seidenbrokat, in den einzelne Silberfäden eingewebt waren. Icherios standen zwei Räume zur Verfügung. Im hinteren befand sich ein Bett, das so riesig war, dass er glaubte, in ihm eine Woche schlafen zu können, ohne jemals dieselbe Stelle zu berühren. Auf den blank polierten Nachtschränkchen leuchteten zahlreiche Kerzen. Ein Waschtisch mit eingelassener Schüssel und einem goldverzierten Krug lehnte an der Wand. Das Schlafzimmer verfügte über einen Kamin, der in der Nacht wohlige Wärme spenden würde. Zog man die schweren Samtvorhänge zur Seite, fiel helles Tageslicht herein. Icherios wünschte sie sich allerdings vergittert und deutlich kleiner. Im Hauptraum lud ein breites Sofa dazu ein, sich mit einem Buch in der Hand auf ihm niederzulassen. Die Tapete über ihm wies ein bleiches, quadratisches Rechteck auf. Hier musste bis vor kurzem ein Bild gehangen haben. Icherios fragte sich, was darauf zu sehen war, dass man ihm den Anblick nicht zumuten wollte. Unter dem Fenster stand ein großer Schreibtisch mit einem bequemen Stuhl davor. In einer Ecke hatte man mehrere Tische aneinandergestellt und seinen Versuchsaufbau darauf errichtet. Dabei war man sehr sorgfältig und korrekt vorgegangen. Icherios entdeckte keinen Fehler. Ein Bücherregal im Schlafzimmer enthielt eine Sammlung zeitgenössischer Literatur und einige Werke von Shakespeare. Icherios holte Maleficium aus seiner Tasche hervor und setzte ihn auf den Boden. »Unser neues Zuhause.«
Die Schnurrhaare der Ratte zitterten aufgeregt. Es roch ungewohnt, und die weichen Teppiche verwirrten sie. Doch sie ließ sich nicht lange beirren und begab sich an die Erkundung ihrer Umgebung. Trotz der Gegenwart der Vampire fiel Icherios in sein Bett. Er versuchte zu schlafen, um Lorettas zerschmetterten Körper aus seinem Geist zu verbannen, aber es gelang ihm nicht. Ruhelos wälzte er sich hin und her, bis ihn Carissima abholte.
Die Bibliothek lag im Ostflügel der Festung und zeichnete sich durch ihre hohen Wände
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