Alchemie der Unsterblichkeit
Essen herum. Lange hatte er sich so eine frische, reichhaltige Mahlzeit gewünscht und nun, da er sie endlich vor sich hatte, verwandelten sich die Bissen in seinem Mund zu zäher Pappe. Immer wieder durchforstete er seine Gedanken nach Möglichkeiten, aus Dornfelde zu fliehen. Er war noch nicht bereit zu sterben, aber seine Situation schien ihm ausweglos. Durch den Wald würde er es nicht schaffen. Die Erinnerung an die Irrlichter und das abgeschälte Fleisch der Worge spukte immer noch sehr lebhaft in seinem Kopf herum. Er bezweifelte, dass er jemanden bestechen könnte, um ihn aus der Ortschaft zu bringen. Seine einzige Chance bestand im Moment darin, sich schon jetzt auf eine möglicherweise überstürzte Flucht vorzubereiten und auf Sohon zu hoffen. Doch was, wenn der Fürst der Mörder war? Ein finsteres Geheimnis schien den Vampir zu umgeben. Eines, das dunkler noch als seine Herkunft war. Sollte Icherios jemand anderes beschuldigen, um sein eigenes Leben zu retten? Er beschloss, sich mit Arbeit von diesen beängstigenden Gedanken abzulenken, breitete seine Unterlagen aus und holte einen seiner größten Schätze hervor – das äußerst seltene und begehrte Buch Monstrorum Noctis . Mehrfach las er in dem Buch die Abhandlungen über Vampire, Werwölfe und Geister.
Während er die Seiten wieder überflog, verschwand die Sonne langsam hinter den Hausdächern. Aufgrund der merkwürdigen Lichtverhältnisse im Dunklen Territorium färbte sich der Himmel hier tiefschwarz, und die Sterne glommen sterbenden Glühwürmchen gleich in traurigem Gelb. Das flackernde Licht der Kerze tanzte an den Wänden und ließ die Buchstaben vor Icherios’ Augen verschwimmen. Beinahe wäre er über seinen Aufzeichnungen eingeschlafen, als eine Bewegung vor dem Fenster seine Aufmerksamkeit erregte. Er beugte sich vor, eine Hand auf das Bleiglasfenster gestützt. Ein feiner Ring aus Feuchtigkeit bildete sich um seine Fingerabdrücke. An der gegenüberliegenden Hauswand sah er erneut, wie sich etwas bewegte. Ein Schatten huschte die Mauer herunter, zu groß für eine Spinne und zu gewandt für ein Nagetier. Mit Entsetzen erkannte Icherios die Silhouette einer Frau. Ihre Gestalt wurde nicht von der Schwerkraft beeinträchtigt. Sie hing kopfüber herunter und glitt wie eine Echse, Hände und Füße Saugnäpfen gleich auf dem feuchten Stein haftend, nach unten. Dennoch blieben Haare und Kleid unbeeinträchtigt, als wenn sie auf ebener Erde stünde. Icherios erinnerte sich, dieses Haar bereits gesehen zu haben. Es gehörte zu Carissima, Sohons Schwester. Drei Meter über dem Boden stieß sie sich von der Wand ab und sprang elegant herunter. Der Rock blähte sich bei der Landung auf und entblößte schlanke, weiße Fesseln. Carissima drehte sich um und blickte Icherios direkt ins Gesicht. Wie ein Kaninchen beim Anblick seines Jägers erstarrte er. Sie warf ihm ein verschmitztes Lächeln zu, dann verschwand sie im Dunkeln. Icherios taumelte auf seinen Stuhl. Der Abdruck seiner Hand am Fenster verblasste. Carissimas Erscheinung an der Hauswand war zu grotesk und fremdartig, um es erfassen zu können. Schaudernd schloss er die Bücher. Er musste hier weg. Irgendwie, so schnell wie möglich. Die Idee, irgendjemand ans Messer zu liefern, nur um diesen Ort endlich verlassen zu können, erschien ihm verlockend. Ohne sich auszuziehen, ging er zu Bett. Er beschloss, eine Kerze brennen zu lassen. Dunkelheit konnte er jetzt nicht ertragen. Unruhig wälzte er sich hin und her. Manchmal fiel er in einen leichten Schlummer, nur um sogleich mit rasendem Puls und völlig verschwitzt zu erwachen. Das Verlangen nach Laudanum quälte ihn, doch die Angst vor dem, was geschehen würde, wenn er in die selige Bewusstlosigkeit hinabsank, half ihm der Lust zu widerstehen. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als er erneut Maribelles Schreie durch das Haus hallen hörte. Icherios zuckte zusammen, wickelte sich die Decke um die Ohren und hoffte, die Geräusche ausblenden zu können. Doch je mehr er versuchte, sie zu ignorieren, desto deutlicher hörte er sie in seinen Gedanken. Spät in der Nacht übermannte ihn die Verzweiflung. Er stand auf und holte aus seiner Tasche das verheißungsvolle grüne Fläschchen. Er zögerte, dann nahm er einen tiefen Schluck. Seine Muskulatur entspannte sich, sein Geist gab sich der Gleichgültigkeit hin, dann fiel er in einen traumlosen Schlaf. Nicht erholsam, aber besser als eine Nacht des bangen
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