Alchemie der Unsterblichkeit
Wachens.
14
Maribelle
G
Ein kalter, feuchter Lappen holte Icherios zurück in die Wirklichkeit. Verschlafen blinzelte er in das Morgenlicht. Die Vögel sangen vor dem Fenster ihren Morgengruß, während er benommen damit kämpfte, die Nachwirkungen des Laudanums abzuschütteln. Verwirrt blickte er empor und erkannte in Loretta die Inhaberin des nassen Waschlappens. Ihr hübsches Gesicht veranlasste ihn, seine missmutigen Worte hinunterzuschlucken.
Sobald sie bemerkte, dass er die Augen öffnete, begann sie ihn zu schütteln. »Wacht auf! So wacht doch bitte auf!«
Der drängende Ton in ihrer Stimme vertrieb den letzten Rest Verschlafenheit aus dem jungen Gelehrten. Er versuchte sich von ihr zu lösen, doch er konnte mit seinen Armen nur ziellos umherfuchteln. Fast hätte er ihr in die Magengrube geschlagen in dem Bemühen, ihre Hände zu ergreifen. Er wollte sie fragen, was geschehen war, aber die Laute, die über seine Lippen kamen, erinnerten wenig an die menschliche Sprache. Endlich erlangte Icherios genügend Beherrschung über seinen Körper, um sich zu befreien und aufzurichten. Er stand auf, packte Loretta an der Hüfte, hob sie hoch und stellte sie in sicherem Abstand ab. Sie hielt einen Moment inne, schaute ihn von oben bis unten an, dann errötete sie schamhaft und senkte den Kopf.
Zu Icherios’ Entsetzten bemerkte er, dass sich sein Hemd bis zum Bauchnabel geöffnet hatte und er halb nackt vor ihr stand. Hastig schloss er mit zittrigen Fingern die Knöpfe. »Beruhigen Sie sich erst einmal. Was ist denn eigentlich geschehen?«
Innerhalb weniger Minuten hatte sich der Himmel zugezogen. Die Vögel waren verstummt und ein Blitz erhellte den Raum, gefolgt von bedrohlichem Donnergrollen. Das Prasseln von Regen gegen das Fenster übertönte Lorettas Seufzer, als sie tief durchatmete. »Verzeiht die frühe Störung. Meine Schwester ist krank. Maribelle ist geistig nicht normal, und niemand ist bereit sie zu untersuchen.« Flehentlich sah sie ihn an. »Sie sind ein gelehrter Mann. Könnten Sie nicht nach ihr schauen?«
»Gibt es denn hier keinen Arzt?«
»Nein, und selbst wenn, würde er sich nicht um eine Person wie Maribelle kümmern.«
»Ich bin aber doch kein Mediziner, sondern Inspektor.«
»Aber Sie wissen doch so viel! Vielleicht erkennen Sie die Symptome und vermögen ihr zu helfen.«
Ein Blick in ihre großen, tränengefüllten Augen veranlasste Icherios seine Zweifel über Bord zu werfen. Schließlich war er angehender Medizinstudent und verstand vermutlich mehr von Heilkunde als jeder sogenannte Dorfarzt. »In Ordnung, geben Sie mir nur einen Moment.« Erst schlüpfte er in seine Schuhe, dann schnappte er sich seinen Koffer, während er sich bemühte, ein Zittern zu unterdrücken. Seine Kleider klebten durchtränkt von Nachtschweiß an seinem Körper, und die feuchte, regenschwangere Luft tat ihr Übriges, um eine klamme Kälte in seine Knochen dringen zu lassen. »Warum wurde mir Ihre Schwester nicht vorgestellt?«
»Mein Vater schämt sich ihrer, doch was kann sie für die Prüfung, die Gott ihr auferlegt hat?«
Ohne nachzudenken, antwortete Icherios. »Manch einer meint, dass nur verdorbene Seelen solches Elend zu bewältigen haben.«
Loretta fuhr erbost zu ihm herum. »Was für eine schwarze Seele kann denn ein kleines Kind haben? Sie war so rein und unschuldig wie ein zarter Engel.«
Icherios bereute seine unbedachten Worte. »Verzeiht, das war unangemessen.«
Stolz wandte Loretta sich ab und führte ihn schweigend durch das Haus nach unten. Die Kellertür schwang lautlos auf. Hinter ihr lag eine schmale Treppe mit steilen, grob gehauenen Stufen. An ihrem Ende befand sich ein großer Raum, in dessen Mitte ein freistehender Käfig stand. Wie ein Tier wanderte darin eine magere, blonde Frau mit kurzen, zerzausten Haaren auf und ab. Ihre Züge wiesen erschreckende Ähnlichkeit mit Lorettas auf. Icherios fühlte sich wie ein Zuschauer in einem Zoo, der eine seltene Kreatur betrachtete. Maribelle trug ein Kleid, das zuvor vermutlich Loretta gehört hatte. Es bestand aus edlem Tuch, von dem die wertvollen Spitzen und Perlen abgetrennt worden waren. Trotz des Schmutzes, der an dem Gewand haftete und der Tatsache, dass es locker an ihrem dürren Leib hing, verlieh es ihr einen Rest Würde.
Maribelle glich einer grotesken, verschmutzten Puppe, die im Rinnstein lag. Zu ihren Füßen hatten sich Essensreste und zerbrochenes Geschirr gesammelt. In der Ecke befand sich ein stinkender Abort.
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