Alchemie der Unsterblichkeit
dass vermutlich einer der Toten die Karte kannte. Immerhin könnte sie dem Fürsten große Teile seines Besitzes streitig machen.«
»Solange Sie nicht sicher sind, würde ich keine schlafenden Hunde wecken.« Kolchin blickte ängstlich aus dem Fenster.
»Natürlich nicht. Vorerst sammle ich nur Informationen. Wer ist diese Familie Freylung? Ich bin ihr bisher nicht vorgestellt worden.«
»Doch, das sind Sie. Loretta und Maribelle sind die letzten Nachfahren der Freylungs.« Kolchin seufzte. »Es ist eine lange Geschichte.«
»Versuchen Sie es mit einer Kurzfassung.«
»Lorettas Mutter, Anna, war eine geborene Freylung und somit Teil einer Familie reicher Gutsbesitzer. Anna war der einzige Nachkomme und ihr zukünftiger Gatte der Erbe sämtlicher Besitztümer. Angeblich liebte sie einen anderen Mann, heiratete aber zur großen Überraschung und gegen den Willen ihrer Eltern Endrik von Arken. Mein Vater behauptete immer, dass die Dorfbewohner verblüfft über ihre Entscheidung waren, da dieser weder Land noch Geld besaß. Doch die Freylungs vergötterten ihr einziges Kind und erfüllten ihr jeden Wunsch.«
»Wen liebte sie denn tatsächlich?«
»Das hat mir mein Vater nie verraten.«
»Wie ist sie gestorben?«
»Sie gebar Arken zwei Töchter. Bei der Geburt des dritten Kindes, angeblich ein Sohn, verstarb sie.«
Icherios ging im Raum auf und ab. Eine Angewohnheit, die ihm beim Nachdenken half. »Ein Junge? Das Kind wurde geboren?«
Kolchin zuckte mit den Schultern. »Spielt das eine Rolle? Fragen Sie den Pfarrer. Vielleicht weiß er mehr oder kennt die Hebamme.«
Icherios musste an Maribelle denken, die immer wieder nach ihrem verlorenen Bruder gerufen hatte. Der Tod ihrer Mutter und ihres kleinen Geschwisters mochte sie traumatisiert und in den Zustand des Wahnsinns versetzt haben.
»Was geschah mit Annas Eltern?«
»Zu Arkens Glück kamen sie kurz nach der Hochzeit bei einem Unfall mit der Kutsche um.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass der Bürgermeister seine Finger im Spiel gehabt haben könnte?«
»Es wurde nie etwas bewiesen.«
Icherios verabschiedete sich. Statt Antworten zu finden, stellten sich ihm nun noch mehr Fragen.
16
Geisterhafte Begegnung
G
Icherios streifte durch die Straßen von Dornfelde und verspürte keinerlei Bedürfnis, in das Haus des Bürgermeisters zurückzukehren. Selbst seinem Elternhaus hätte er im Moment den Vorzug gegeben. Voller Scham entsann er sich an die Begegnung mit Maribelle und der Tatsache, dass er es nicht vermochte, sie zu berühren. Wie konnte er hoffen, Arzt zu werden, wenn er Kranke fürchtete?
Icherios’ Blick schweifte an den Hausfronten entlang. Mittlerweile fiel es ihm leichter Menschen, Vampire und Werwölfe voneinander zu unterscheiden. Offenbar gab es eine Arbeitsteilung. Die Werwölfe beschäftigten sich mit groben Tätigkeiten, brachten Holz und Fleisch herbei, wuchteten schwere Gegenstände auf die Karren. Die Vampire hingegen wandten sich den feineren Künsten zu und organisierten den Bau von Häusern, die Verteilung der Lebensmittel und stellten Körbe, Tische und Dinge für den alltäglichen Gebrauch her. In jedem Garten wurden Obst und Gemüse angebaut. Dadurch, dass die Vampire keiner normalen Nahrung bedurften und die Werwölfe hauptsächlich von der Jagd lebten, stand den Menschen selbst in Zeiten des Hungers ausreichend Essen zur Verfügung. Diese kümmerten sich um die Tiere, betrieben Fischerei am See, bebauten Felder und verarbeiteten die Nahrungsmittel.
Nach den zahllosen Berichten, die Icherios über Vampire gelesen hatte und dem Bild, das dort von den Kreaturen gezeichnet wurde, wirkte eine Stadt wie Dornfelde geradezu absonderlich. Wer würde ihm glauben, dass Vampire als Handwerker arbeiteten und zusammen mit normalen Menschen Dorfgemeinschaften bildeten?
Trotz des äußerlichen Friedens vergaß Icherios nie, dass das zarte Gleichgewicht drohte ins Wanken zu geraten. Da war ein unvorsichtiger Kutscher, der einen Werwolf beinahe umfuhr, und im Gegenzug von einer pöbelnden Masse davongejagt wurde. Da gab es Vampire, auffällig mit ihrer weißen Haut und den spitzen Zähnen, die die Menschen, die ihre Waren begutachteten, misstrauisch beäugten. Icherios wurde sich schmerzhaft bewusst, wie wenig Zeit ihm blieb, um das drohende Unheil abzuwenden. Die Balance in Dornfelde beruhte auf gegenseitigem Vertrauen, und dieses begann schneller als ein Erdrutsch zu zerfallen.
Zurück im Haus des Bürgermeisters ging Icherios seine
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