Alchemie der Unsterblichkeit
friedfertig, aber wenn sie in Rage geraten, können sie schnell die Beherrschung verlieren.«
Icherios schluckte. »Zwischen Ihnen und dem Pfarrer scheint es Spannungen zu geben.«
Rabensang kniete neben einem Grab nieder. »So kann man es nennen. Wir Werwölfe leben seit Jahrhunderten in diesem Teil der Welt. Dornfelde ist das Zentrum meines Volkes.« Er strich liebevoll über die verwitterte Inschrift eines Grabsteins. »Hier liegt mein Großvater begraben. Früher schätzten und respektierten uns die Menschen. Wir boten Schutz, wir halfen bei der Jagd, und im Gegenzug brachten sie uns Achtung entgegen und lehrten uns, unser Temperament zu zügeln. Dann brach das Christentum mit seinen Anhängern über uns herein.«
»Die Werwölfe lebten bereits vor Christi Geburt in dieser Gegend?«
»Nein, wir siedelten uns an, nachdem Hunger und Krieg fast alle Menschen ausgelöscht hatten. Die Kirche stand zu dieser Zeit leer. Vor einigen Jahren kam Pfarrer Bernsten und übernahm sie angeblich im Auftrag des Heiligen Stuhls persönlich.«
»Glauben Sie das nicht?«
»Der Papst hat sich nie für uns interessiert. Wir passen nicht in das Weltbild der Christen. Anstatt uns zu verfolgen, wie es über Jahrhunderte lang Tradition war, beschloss Papst Pius V. vor zweihundert Jahren, uns zu ignorieren und unsere Existenz zu leugnen. Der Preis an Menschenleben war ihm zu hoch.« Stolz schwang in Rabensangs Stimme mit. »Für jeden toten Werwolf mussten drei seiner Diener sterben.«
»Und dann tauchte Bernsten auf?«
»Ohne Vorwarnung oder Ankündigung. Er ist anders, stiftet Unruhe, wann immer er kann. Er versucht die Menschen gegen uns aufzubringen und betrachtet mein Volk als Ausgeburten der Hölle.« Er zeigte auf eine Reihe frischer Gräber, die sich abseits, am Seeufer befanden. »Er verscharrt die Leichen von Vampiren und Werwölfen getrennt von den Menschen. Bevorzugt nah am Wasser, um es den Vampiren unmöglich zu machen, ihre Toten in Ruhe zu betrauern.«
»Vampire fürchten das Wasser?«
»Ja, deshalb ist Sohon heute nicht anwesend. Wasser beunruhigt sie, lähmt sie bei Berührung.«
»Warum wurde kein neuer Friedhof angelegt?« Icherios deutete auf den Wald. »Es gibt ausreichend Platz.«
»Sohon befürchtete Unruhen. Die Aufgabe der alten Gräber hätte Familien im Tod auseinandergerissen, und ein eigener Friedhof für Vampire würde zu Übergriffen verleiten. Während wir Werwölfe den Menschen nur unheimlich erscheinen, aber keine direkte Bedrohung darstellen, sind Vampire wirklich Menschenjäger und brauchen Menschenblut, um zu überleben.«
»Nicht das von Werwölfen?«
»Angeblich stinken wir.« Rabensang wog einen grauen Kiesel in der Hand. »Es wäre, als wenn man sie zwänge, flüssige Jauche zu trinken.«
»Die Werwölfe scheinen davon auszugehen, dass ein Mensch der Mörder ist.«
»Bedenkt man die Art der Vampire und Werwölfe, erscheint es wahrscheinlich. Doch in meinem Herzen möchte ich nicht glauben, dass ein Mensch uns derart leicht töten kann und uns so sehr hasst.« Er warf den Stein weit in den See hinaus.
»Ich bezweifle, dass Hass das Motiv ist. Der Mörder wird von etwas anderem angetrieben. Zu wahllos hat er seine Opfer ausgewählt.«
Kolchins aufgeregte Stimme drang an sein Ohr. Icherios beobachtete, wie der Flurhüter auf zwei zerlumpt aussehende Männer einredete, während sie die Brücke überquerten.
Der Pfarrer musste sie die ganze Zeit belauert haben, denn sobald sie die Kirche passiert hatten, trat er aus einer Hintertür heraus. Icherios ging ihnen zusammen mit dem Werwolf entgegen.
»Wer sind diese Männer?«, verlangte Bernsten zu wissen.
»Tagelöhner, die bei der Köhlerei im Wald leben. Sie werden das Graben übernehmen«, erläuterte Kolchin. »Ich kann leider nicht anwesend sein, ein wichtiger Auftrag zwingt mich zur Eile.« Mit einem aufmunternden Schlag auf Icherios’ Schulter verabschiedete sich der Flurhüter und eilte zum Ort zurück.
Die Tagelöhner zögerten, zu den frischen Gräbern am Seeufer hinüberzugehen. Angst zeichnete sich auf ihren Gesichtern ab. Rabensang stellte sich zwischen sie und trieb sie vorwärts.
Der Grabschmuck war bereits zur Seite gelegt worden. Die provisorischen Holzkreuze, die als Ersatz dienten, bis die Grabsteine gemeißelt waren, stapelten sich am leise plätschernden Ufer. Die Wiese ging dort in einen schmalen Strandstreifen über, auf dem große, runde Kiesel lagen.
Rabensang befahl den Arbeitern, das vorderste Grab
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