Alchemie der Unsterblichkeit
wünschte, außer dass sie nicht viel von Bildung hielt. Bücher lenken eine Frau von ihren wesentlichen Pflichten ab. Nachdem Icherios sich von seiner Familie losgesagt hatte und seiner inneren Berufung, der Wissenschaft, gefolgt war, löste sie ihre Verlobung und heiratete nach wenigen Monaten einen vermögenden, alten Bankier. Grete strich ihn wie ein lästiges Insekt aus ihrem Leben. Damals hatte Icherios nicht hinter den schönen Schein sehen können. Er hoffte, dass Loretta anders war. Sie hatte einen wohlhabenden Vater, und die Aussicht, einen reichen Fürsten zu heiraten, der ihr zudem die Unsterblichkeit versprach. Trotzdem wollte sie mit ihm nach Karlsruhe fliehen.
Die höchste Tugend ist die Freiheit von Emotionen . Icherios klammerte sich an diese Weisheit. Er durfte seinen unbedachten Gefühlen nicht die Herrschaft über ihn geben. Leise betete er die Lehrsätze der Tabula Smaragdina vor sich hin, bis er in einen leichten Schlaf fiel.
Stunden später erwachte er und ärgerte sich, eingeschlafen zu sein. Sein Versuchsaufbau funktionierte und wartete auf den Durchlauf. Mit steifen Knochen stand Icherios auf. Maleficium ruhte noch immer in seinen Händen und quiekte empört über die Störung. Gott sei Dank war das kleine Tier bestechlich und verkroch sich mit einem Stück Käse in eine Ecke. Der junge Gelehrte streckte sich. Dann verdünnte er die Blutprobe mit einigen Tropfen Wasser und gab den Schwefel hinzu. Anschließend füllte er die Mischung in die Apparatur. Nachdem er die Flammen erneut entzündet hatte, beobachtete Icherios, wie die Flüssigkeit verdampfte und seinen Weg durch das System startete. Er löschte alle Lampen. Einzig die flackernden Flammen unter den Kolben spendeten Helligkeit. Er setzte sich mit dem Rücken an den Bettpfosten gelehnt auf den Boden, legte die Hände auf die Knie und stützte seinen Kopf darauf. Geistesabwesend verfolgte er wie der Dampf in den Röhren perlend kondensierte. Zuerst glaubte er zu träumen, als ein leiser Singsang erklang. Dann wurde ihm bewusst, dass die Laute näher kamen. Langsam drehte er sich um. Hinter ihm stand eine hochgewachsene Frau, die ihn mit dunklen Augen fixierte. Sie war hübsch, vielleicht etwas zu kräftig im Gesicht. Ihr glattes braunes Haar fiel lang den Rücken hinab. Die vollen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, während sie weitersang. Ein enges Mieder brachte ihren üppigen Körper zur Geltung. Das einzige und dafür umso erschreckendere Problem bestand darin, dass sie durchsichtig war und einen Meter über dem Boden schwebte. Icherios presste sich an den Bettpfosten. Das musste die Grabende Helene sein, der Geist von dem ihm Kolchin erzählt hatte. Angst und Faszination kämpften in seinem Inneren um die Vorherrschaft.
Dann verwandelte sich der Singsang in Worte.
»In Wissen liegt Macht,
verkannt in Gier,
die wahre Pracht
des Lebens holde Zier.«
Icherios rieb sich die Augen. Er hatte vieles erwartet, nur nicht einen reimenden Geist. Dann nahm er die kläglichen Reste seines Mutes zusammen. »Bist du Helene?« Seine Stimme krächzte.
Der Geist kicherte. In die glockenhellen Töne mischte sich ein unterschwelliges, metallisches Kreischen.
»Findet er mich hübsch
oder doch eher drüsch?«
Icherios starrte sie an. Verlangte der Geist tatsächlich zu wissen, ob er sie attraktiv fand? Er kniff sich in die Wangen, um sich zu versichern, dass er nicht schlief. Sie schwebte weiterhin vor ihm. »Zu Lebzeiten konnte dir sicher keiner widerstehen.«
Wieder lachte der Geist. Sie schien ein fröhliches Naturell zu haben. Ganz anderes als die in den Abhandlungen erwähnten bösen Erscheinungen, die die Menschen plagten.
»Flinke Zunge führt er in seinem Munde,
so gewinnt er die erste Runde.
Er nehme meinen Rat
und vergesse nicht den Grat
zwischen Erkenntnis und Wissenschaft,
denn nur der, der sieht, auch Wissen schafft.
Suche im Amtes Zimmer,
nach des Wissens Schimmer.«
Helene schwebte auf ihn zu. Bevor Icherios ausweichen konnte, strich ihre Hand wie ein kühler Lufthauch über seine Wange. Ihre Fingerkuppen waren blutig und mit Erde beschmiert, die Fingernägel abgerissen. Icherios starrte sie an. Dann verblasste sie wie ein Nebelschleier, den der Wind davontrug. Ihr Lachen klang noch lange im Raum nach. Icherios kauerte sich neben Maleficium in die Ecke. Seine Zweifel an seinem Verstand wuchsen.
Die nächsten Stunden blickte er stumpfsinnig in die Flammen. Ab und an drehte er den Kopf, um sich zu vergewissern,
Weitere Kostenlose Bücher