Alchemie der Unsterblichkeit
dass es sich um Arkens verstorbene Frau und somit Lorettas Mutter handelte. Die Lektüre des Tagebuches erschütterte Icherios. Anna Freylung war vom Bürgermeister vergewaltigt worden, wurde schwanger und dadurch gezwungen ihn zu heiraten. Sie begann eine Affäre mit einem Mann, den sie immer nur als ihren Liebsten bezeichnete. Sie fürchtete, was mit ihr passieren würde, wenn ihr Mann erfuhr, dass sie von einem anderen schwanger war. Das Tagebuch endete kurz vor der Geburt. Die letzte Seite war tränenverschmiert.
Endrik weiß es, ich bin mir sicher. Gott steh mir bei! Ich kann nicht fliehen mit dem Kind in meinem Leib. Hoffentlich rettet mich mein Liebster. Er kommt…
Icherios tastete mit den Händen in der Vertiefung und fand mehrere Papiere. Bei einem handelte es sich um eine Aufzeichnung über eine Zahlung vor siebenundzwanzig Jahren an eine Bauernfamilie, die bei Glashütte lebte. Dahinter war ein Bericht geheftet. Er besagte, dass die Familie ein halbes Jahr später bei einem Brand umgekommen war. Nachdenklich legte Icherios alles zurück und verschloss das Versteck. Er lehnte den Kopf an den Fensterrahmen und ließ das Gelesene auf sich wirken. Plötzlich sah er draußen einen Schatten vorbeihuschen. Zuerst glaubte er einen Geist gesehen zu haben, doch dann erkannte er die schlanke Gestalt einer Frau, die unter einem braunen Mantel ein weißes Kleid trug. Ängstlich sah sie sich um. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Angst schimmerte in ihren Augen. Icherios erinnerte sich, das Gesicht in Kolchins Amulett gesehen zu haben. Es musste Eva sein, seine Frau! Icherios packte die Neugier. Was trieb sie spätnachts allein auf der Straße? Er beschloss, ihr zu folgen.
Icherios beeilte sich, aus dem Haus zu gelangen. Es war schwierig Geschwindigkeit und Lautlosigkeit miteinander in Einklang zu bringen. Beinahe hätte er eine Vase umgeworfen, als er mit den Zehen schmerzhaft gegen einen Schrank stieß. Im letzten Moment konnte er ihren Fall auffangen.
Kaum war er vor der Haustür, rannte er die Straße hinunter. Seine Füße wurden schnell taub vor Kälte. Erst jetzt bemerkte er, dass er außer Mantel und Nachtgewand nichts trug. Aber zur Umkehr war es inzwischen zu spät. Die Neugier trieb ihn vorwärts. An der Wegkreuzung blickte er sich suchend um. Da! In der Gasse zur Linken war die Frau gerade um eine Ecke verschwunden. Einige Kreuzungen weiter erkannte er ihr Ziel: die Kirche! Icherios verbarg sich im Schatten eines am Seeufer liegenden Hauses. Von dort aus beobachtete er, wie die Frau über die schmale Brücke eilte. Immer wieder versicherte sie sich, dass ihr niemand folgte. Mit einem letzten prüfenden Blick öffnete sie das Kirchenportal und verschwand im Inneren. Sobald Icherios sicher war, dass sie nicht wieder herauskommen würde, rannte er zur Kirche und duckte sich unter den Fenstern vorbei. Im Kirchenschiff war nichts zu erkennen. Aber als er an die Rückseite kam, konnte er durch ein kleines, von innen beschlagenes Fenster in die Räumlichkeiten des Pfarrers blicken. Eva Kolchin lag lang ausgestreckt und ohne ihre Kleidung auf dem Bett. Der Pfarrer presste seinen feisten Leib, ebenfalls nackt, zwischen ihre Schenkel. Bei jeder Zuckung seines massigen Körpers schwabbelte das Fett auf seinem Rücken. Icherios brannte die Röte in den Wangen. Er konnte den Blick nicht abwenden. Plötzlich drehte sie den Kopf und starrte ihm direkt ins Gesicht. Schnell ließ Icherios sich fallen und hielt den Atem an, doch außer dem Ächzen des Pfarrers drang kein weiteres Geräusch an sein Ohr. Entweder hatte sie ihn nicht bemerkt oder wollte ihn nicht verraten. Icherios jedenfalls hatte genug gesehen. Mehr als er wollte. Er rannte zurück zum Haus des Bürgermeisters. Er achtete nicht darauf leise zu sein, als er die Treppe hinaufstürmte. In seinem Zimmer verkroch er sich unter seine Decken. Er verfluchte seine Neugierde. Was sollte er bloß Lynnart Kolchin sagen?
18
Die Ghoule
G
A m nächsten Morgen erwachte Icherios mit dröhnendem Schädel und dem Gefühl, sich nicht im eigenen Körper zu befinden.
Ein schmerzhaftes Ziehen in seiner Magengrube erinnerte ihn daran, dass er seit dem Frühstück am gestrigen Tag nichts mehr gegessen hatte. Unbeholfen zog er sich an. Das Bild der beiden Liebenden wollte nicht aus seinen Gedanken verschwinden.
Auf dem Weg in die Küche kam er an Maribelles Zimmer vorbei. Ein leises Wimmern war zu vernehmen. Loretta musste seine Schritte gehört haben, denn genau in
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