Alchemie der Unsterblichkeit
doch der Gedanke an die Gefahr, in der die Menschen schwebten, verlieh ihm Mut. Kaum war er oben, folgte ihm Kolchin mit grimmiger Entschlossenheit. Während sie durch die Gänge hasteten, registrierte Icherios erleichtert, dass keine Leichen den Weg säumten und keine Blutspritzer die Wände befleckten.
Er hatte Kolchin vorgelassen, dessen Orientierungssinn selbst in Gebäuden herausragend war. Schließlich erreichten sie den Schlosshof, der still und verlassen vor ihnen lag. Ab und an ging ein Vampir vorbei und musterte sie neugierig. Sie rannten zur Treppe, die nach Dornfelde hinunterführte. Auf dem Weg dahin stießen Rabensang und Sohon zu ihnen.
»Niemand hat ihn gesehen«, schnaufte Rabensang.
»Er war zu schnell«, bemerkte Sohon.
»Aber wenn er Blut braucht, warum ist er nicht über die Menschen hergefallen? Auch im Dorf ist es ruhig.«
Icherios hob die Hand schützend vor die Augen, um gegen die Sonne in den Ort hinunterblicken zu können. Tatsächlich war keinerlei Tumult zu erkennen.
»Vermutlich will er nicht riskieren, andere Unsterbliche zu töten oder zu verletzten«, überlegte Sohon. »Balthasar trachtet mit Sicherheit danach, seinen alten Herrscherrang einzunehmen. Das würde ihm nicht gelingen, wenn er vorher unter seinen Untergebenen wüten würde. Zudem ist er noch nicht genug bei Kräften, um es mit einer ganzen Meute Vampiren und Werwölfen aufzunehmen.«
»Wo treibt er dann sein Unwesen?«, fragte Kolchin.
Icherios erinnerte sich an Kindels Worte vom Morgen. »Sind nicht weitere Vagabunden und Bettler eingetroffen?«
»Woher sollte er wissen, wo sie sind?«, wandte Kolchin ein.
»Bei dieser Kreatur verwundert mich nichts«, brummte Rabensang.
Sohon nickte. »Wer weiß, wie stark seine Sinne sind? Ich kann das Blut der Menschen im Ort riechen. Er ist älter und mächtiger, vielleicht reicht sein Geruchssinn über viele Meilen.«
»Dann müssen wir uns beeilen, um sie zu retten.« Icherios wollte losrennen.
Sohon packte ihn an der Schulter und hielt ihn fest. Seine Nägel gruben sich schmerzhaft in sein Fleisch. »Ihr habt gesehen, wie schnell er war. Wir können den Menschen nicht helfen, indem wir ihm jetzt folgen. Wir brauchen Verstärkung, Pferde und einen Plan zu seiner Vernichtung.«
Icherios nickte beschämt. Beinahe wäre ihm erneut ein Fehler unterlaufen. Sohon bedeutet ihm zu warten, während er mit Rabensang loszog, um Vorkehrungen zu treffen.
30
Im Schatten der Kirche
G
A us dem alten Gemäuer der Kirche drang das herzzerreißende Schluchzen einer Frau und schreckte einige Tauben auf, die Zuflucht im Glockenturm gesucht hatten. Das Schlagen ihrer Flügel hallte von den Wänden wider, als sie sich in die Luft erhoben und über den moosgrünen See hinwegflogen.
Er verbarg sich im Dachstuhl der Kirche, aus dessen Fenster er in das Dorf zu blicken vermochte, in dem die Menschen, Werwölfe und Vampire emsig mit den Vorbereitungen für die Suche nach dem Blutdämon beschäftigt waren. Er lachte leise, während unten Lorettas Schluchzen in ein leises Weinen überging.
Der Inspektor tanzte wie eine Puppe an seinen Fäden. Das Blut würde schon bald in Strömen fließen. Niemand vermochte ihn jetzt noch aufzuhalten.
Er spähte zwischen den Balken nach unten in den Chor der Kirche. Dort saß die blondgelockte Tochter des Bürgermeisters zusammengesunken auf einer Bank und betete um ihr Seelenheil.
Wie ein junges Reh, das um sein bevorstehendes Ende weiß.
Aus seiner Position hätte der Mörder den tiefen Einblick in ihr Dekolleté, das von einem kunstvollen, dreieckigen Amulett geziert wurde, genießen können, doch über solch primitive Gelüste war er hinaus. Sein Blut würde sich niemals mit dem von Lügnern mischen. Zorn kochte in ihm empor. Alles Heuchler, die in Sünde lebten und die Augen vor den Gräueltaten in ihrer Mitte verschlossen. Sie alle verdienten den Tod!
Lautlos kletterte er aus dem Dachstuhl hinunter und schlich nach draußen. Es gab noch viel zu tun.
31
Die Jagd auf den Unsterblichen
G
Z wei Stunden nach Balthasars Wiederauferstehung, die Sonne senkte sich den Bergen entgegen, sammelte sich auf dem Hof eine große Schar Vampire und Werwölfe. Die Blutsauger holten ihre Rösser aus den Stallungen des Fürsten. Es waren beeindruckende, riesige Tiere. Nur wenig zierlicher als die Kaltblüter, die Icherios nach Dornfelde gebracht hatten. Das gleiche schwarze Fell bedeckte die muskulösen Körper. Ihre langen, dichten weißen Mähnen und Schweife
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