Alchemie der Unsterblichkeit
am Hinterkopf ausgefallen. Die grauen, schütteren Strähnen fielen lang auf die Schulter herab. Den Kopf krönte eine Reihe schwarzer Dornen, die aus dem Schädel herauswuchsen.
Sohon blickte voller Ehrfurcht auf das Wesen, während Rabensang sich breitbeinig und bereit für einen Angriff hinstellte. »Gib mir den Pflock.«
Kolchin folgte mit zitternden Händen seiner Anweisung. Icherios trat zusammen mit dem Flurhüter an den Sarkophag heran. Das Wesen trug keine Kleidung und wirkte vollkommen geschlechtslos. Die Finger waren wie bei den Ghoulen zu scharfen Krallen herangewachsen. Doch handelte es sich nicht um verlängerte Fingernägel wie bei den Vampiren, sondern um scharfkantige, fleischlose Auswüchse des Knochens. Icherios befiel eine ungute Ahnung. Er erinnerte sich an den blinzelnden Schädel des toten Ghouls. Deshalb überraschte es ihn nicht so sehr, als die Augen der Kreatur – bösartige, rote Schlitze – sich öffneten. »Mein Blut kommt mich besuchen«, schnarrte es.
Icherios sah, wie der Mund sich unter dem Netz bewegte. Ab und an spaltete sich das Gewebe und entblößte kurze, spitze Zähne, die einen schwarzen Schlund umsäumten. Auf Sohons Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle wieder. Auf der einen Seite war da Angst und Entsetzten, auf der anderen herrschte Bewunderung und Faszination.
Der Fürst sank auf die Knie und bedeutete seinen Begleitern, seinem Beispiel zu folgen. Icherios und Kolchin gehorchten sofort. Der Flurhüter zitterte heftig. Rabensang richtete sich trotzig auf. Sohon packte seinen Stab und stieß ihn blitzschnell gegen die Kniekehlen des Werwolfs, sodass dieser in den Staub fiel. Rabensang wollte auffahren, doch Sohon brachte ihn mit einem herrischen Wink zum Schweigen. »Wir wollten Eure Ruhe nicht stören, Ältester.«
»Was führt euch dann an meine Ruhestätte?« Der Widerhall der seelenlosen Stimme vibrierte in Icherios Innerem. Langsam setzte sich das Wesen auf. »Bist du gekommen, um das Werk deiner Vorfahren zu vollenden? In deinem Blut singt das Erbe des Brudermörders.«
Sohon senkte demütig den Kopf. »Nein, Ältester. Menschen sterben. Wir wollten überprüfen, ob Ihr erwacht seid und Euren rechtmäßigen Platz einnehmen möchtet.«
Ein hohles Lachen erklang. »Erwacht? Du sagst es, als wenn ich geschlafen hätte. Eingesperrt in diesem Gefängnis hat man viel Zeit nachzudenken über die verräterische Brut. Zum Dank für meine Befreiung werde ich dich schnell töten.«
Kaum hatte das Wesen ausgesprochen, stürzte es sich mit gespenstischer Lautlosigkeit auf Sohon. Rabensang hatte auf diese Gelegenheit gewartet und rammte der Gestalt noch in der Luft den Pflock von hinten durch den Brustkorb ins Herz, sodass die Spitze vorne aus der Brust ragte. Mit einem Aufkreischen, das so hoch war, dass es in den Ohren schmerzte, wirbelte die Kreatur herum und schleuderte Rabensang an die Wand. Dann riss es sich den Pflock aus der Wunde und raste mit einer Geschwindigkeit, die Icherios selbst bei Vampiren noch nicht gesehen hatte, den Gang hinauf und verschwand im Dunkeln.
»Was zum Teufel war das?«, fuhr Kolchin den Fürsten an. »Was habt Ihr uns verheimlicht?«
Icherios empfand Bewunderung für den Mut des jungen Mannes. Alle Augen richteten sich auf Sohon. »Es ist eine alte Legende, die sich in unserer Familie immer wieder erzählt wird.« Er setzte sich auf den feuchten Boden. »Einer meiner Vorfahren hatte zwei Söhne, Dragon und Balthasar. Beide waren brutal und menschenverachtend, doch der Ältere, Balthasar übertraf seinen Bruder bei Weitem. Vor allem seine Faszination für Alchemie, Hermetik und die dunklen Künste brachte großes Leid über die Welt. Er begann verschiedene Experimente und erschuf mit Hilfe des Lunalion die Irrlichter und viele andere schreckliche Wesen.«
»Eure Ahnen besaßen das Lunalion?« Icherios erschauerte vor Ehrfurcht. Während andere Männer von Frauen träumten, wurde sein Nachtschlaf von diesem Buch und seinem Gegenstück beherrscht.
Sohon nickte. »Wir haben unsere eigene Übersetzung im vierzehnten Jahrhundert angefertigt. Das Original verschwand in den Wirren des Deutschen Bauernkrieges, Anfang des sechzehnten Jahrhunderts. Die einzige weitere Übersetzung verbrannte 1653 bei der Zerstörung des Klosters Rupertsberg.«
»Was ist dieses Lunalion?« Rabensang ärgerte sich über seine Unwissenheit. Er mochte es nicht, wenn von Dingen gesprochen wurde, die er nicht verstand.
»Es ist ein alchemistisches
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