Aldebaran
Gast. Nedim existierte für sie nicht mehr. Er gehörte ganz Dug.
Dug packte ihn mit seiner kräftigen Hand an der Kehle. Er fasste zu. Nedim spürte, wie er hochgehoben wurde. Er stand auf den Zehenspitzen. Seine Augen auf Dugs Höhe. Er bekam keine Luft mehr. Eine Hitzewelle durchlief ihn. Und das plötzliche Verlangen zu kotzen.
»Und was machen wir nun?«, fragte Dug, ohne die Stimme zu heben.
Dugs Finger an seinem Hals waren ebenso hart wie sein Blick. Nedim fühlte den Druck von Daumen und Zeigefinger unter seinem Kiefer. Dugs ganze Kraft und Brutalität schienen sich dort zu konzentrieren, einzig in dem Druck seiner Finger. Eine neue Hitzewelle trieb ihm den Schweiß auf den Rücken.
»Was machen wir denn nun, he?«
»Las mich los«, versuchte er auszustoßen.
»Lass ihn los!«
Das war ein Befehl. Dug sah Gisèle an und lockerte seinen Griff. Nedim fiel wieder auf die Füße. Er massierte sich den Hals, während er nach Luft rang.
»Was ist das noch mal für ein Kahn von dir?«, fragte Gisèle.
Nedim kreuzte Lallas Blick. Sie hatte sich leicht zu ihnen gedreht. Er schämte sich seiner selbst. Seiner erbärmlichen Figur.
»Ein Frachter. Die Aldebaran. «
»Dug wird deinen Pass einbehalten. Und deinen Seesack. Du kommst gleich wieder, oder morgen, wenn du willst. Aber mit dem Geld, das noch fehlt. Okay, du Schwachkopf? Na los, schmeiß ihn raus, diesen Scheißkerl.«
»Mein Seesack …«
Alma sublime para las almas
Que te comprendan, fiel como yo …
Die letzten Worte, die er hörte. Es gab schlimmere.
7 Auf Regen folgt schönes Wetter, aber die Tränen bleiben
Nedim schrak aus dem Schlaf hoch. Er hatte keine Ahnung, wie spät es war. Seine Uhr war beim Sturz zerbrochen. Er reckte sich schwerfällig. Mutlos blickte er um sich und empfand nichts als Ekel vor sich selbst.
Ermattet schloss er wieder die Augen.
Er war zum Alten Hafen zurückgegangen, auf der Seite vom Rathaus. Zunächst sehr forsch, dann immer langsamer, die Hände in den Taschen. Weil ihn nichts mehr zur Eile antrieb. Die Turmuhr vom Clocher des Accoules zeigte schon fünf Uhr dreißig. Pedrag war bestimmt schon weit weg. Er hatte sich eine Kippe angesteckt und Pedrag als blöden Ochsen verflucht. Und Lalla und Gaby, diese dummen Ziegen. Gisèle, diese Puffmutter. Der doofe, dicke Neger im Habana, der Hurensohn. Die ganze Welt gehörte mit dazu. Er sprach laut, schrie fast. Arschlöcher! Arschlöcher! Arschlöcher! Alles Arschlöcher. Tränen stiegen ihm in die Augen.
Seit einigen Tagen hatte Nedim sich einen Grund dafür zurechtgelegt, warum er wieder an Land ging. Er hatte Ousbène das erklärt. Letztendlich war die Seefahrt nicht sein Ding. Er war Bauer, nicht Seemann. Sein Boden fehlte ihm. Sein Dorf. Die Zypressen entlang des Gartens. Die Hügel, die er von seinem Fenster aus sehen konnte. Der Bach, der hinter der Küchentür plätscherte. Und, oben im Dorf, Aysel, seine Verlobte. Die Braut, um die sein Vater für ihn geworben hatte, als er aus der Armee kam. »Mein Sohn«, hatte er gesagt, »du bist alt genug, eine Familie zu gründen. Hat dein Herz gewählt?«
Nicht sein Herz hatte gewählt, sondern sein Körper. Jede Faser seines Körpers. Aysel war das hübscheste Mädchen im Dorf. Auch aus den Nachbardörfern. Sie war sechzehn. Alle Jungs hatten Aysel aufwachsen sehen. Aufblühen. Alle träumten von ihr. Sie war Osman, seinem Jugendfreund, versprochen. Aber Osman war tot, von einem Baum erschlagen, der Pechvogel. Und Nedim war der Älteste von den Jungen im Dorf, der noch nicht verheiratet war. Er hatte ein Recht auf Aysel.
Ihretwegen war alles ins Wanken geraten. Ihretwegen, und wegen ihrer Familie. Aysels Vater wollte seine Tochter nicht an einen Jungen ohne Arbeit geben.
»Ich kenne und achte dich, dich, deine Familie und deine Vorfahren«, hatte er seinem Vater geantwortet. »Ich weiß, Nedim ist ein guter Junge. Er wird ein guter Ehemann und Familienvater sein. Die Mitgift, die du vorschlägst, ist mir vollkommen recht, Salih. Aber Aysel ist noch jung, und Nedim hat keine Arbeit. Ich verspreche dir meine Tochter für deinen Sohn. Komm mich wieder besuchen, wenn er seinen Lebensunterhalt verdient.«
Er hatte hinzugefügt: »Eins noch, Salih. Ich möchte nicht, dass Nedim meine Tochter in die Fremde entführt. Wie es die meisten unserer Kinder tun. Woanders ist außer dem Tod nichts zu holen.«
Nedim war wütend geworden, wütend auf Aysels Vater, auf seinen eigenen Vater und auch auf seine Mutter.
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