Aldebaran
Woher nahmen sie das Recht, den Sohn des Schmiedes Salih, des Meisters Salih, so zu behandeln?
Seit seiner Rückkehr ins Dorf begehrte er Aysel. Sie war schön, gewiss, aber vor allem war sie rein. Ihr Körper, ihr Herz, ihr Geist. Das konnte man ihr von den Augen ablesen. Sie war nicht wie die Mädchen, denen er in Istanbul begegnet war. Europäisch gekleidet in Minirock oder Jeans und kettenrauchend. Mädchen, die nichts anderes im Kopf hatten, als sich ficken zu lassen. Nutten.
Nutten. Darauf reduzierte sich sein Leben, seit er vor vier Jahren fortgegangen war. Denn sein Vater hatte Aysels Vater zugestimmt. Gut, Nedim bereute es nicht, gegangen zu sein. So konnte er Mädchen in allen Hautfarben vernaschen. Eine so schön wie die andere. Schöner als Aysel zweifellos. Aber keine hatte so eine Flamme in den Augen wie Aysel. Sie schliefen mit ihm und er mit ihnen. Ohne Emotion. Leer.
Ihr Vater hatte ihm drei Jahre gegeben. In den ersten beiden Jahren hatte er nur an Aysel gedacht, an Aysel und sich selbst, an ihre Heirat, und an Aysels Körper, Aysel ganz für sich allein. Das beschäftigte ihn während sämtlicher Überfahrten. Die See bekam einen Sinn. Aysels Liebe. Bei jedem Landgang schickte er seiner Familie Geld. Fast alles. Er behielt nur gerade genug für einen Rausch und eine Frau für die Nacht. Außerhalb Europas kosteten Alkohol und Frauen nicht viel. In Saigon hatte er eine für eine Woche aufgetan. Für zehn Dollar. Das war sein schönstes Erlebnis gewesen. Huong hieß sie. Sie tat alles, was er von ihr verlangte. Für zehn Dollar. Bekam sogar einen Orgasmus. Und wusch seine Klamotten.
Eines Tages war er ins Dorf zurückgekehrt. In Istanbul hatte er von seinem Geld einen alten französischen Armeelaster gekauft. Er hatte gesagt: »Das werde ich tun, ich werde Spediteur.« Er erinnerte sich noch an seine Ankunft im Dorf. Die Pappeln am Straßenrand, die Brücke, die Steigung, die kleine Gasse. Ein Held. Auf dem Weg hatte er alle eingesammelt, die von ihrer Arbeit auf den Feldern heimkehrten. Dann war er zu Aysel gegangen, um ihr den Lastwagen vorzuführen. »Damit zeige ich dir das Meer. Das Schwarze Meer und das Marmarameer. Unsere beiden Meere, Aysel. Mit dem Bosporus dazwischen.« Sie hatte Tränen in den Augen. Und Nedim hatte sein Glück zum Greifen nah geglaubt.
Bevor er wieder fortging, hatte er den Lastwagen seinem großen Bruder Aymur anvertraut. Damit er bis zu seiner Rückkehr auf ihn aufpasste. Er musste noch sechs Monate zur See fahren. Einmal über den Atlantik. Und einen Abstecher nach Panama. Panama wollte er sich nicht entgehen lassen. Das Paradies der Seeleute, hatte er sich erzählen lassen. Das wollte er sich noch einmal gönnen, bevor er sein Junggesellenleben endgültig begrub. Eine Nacht mit den Frauen von Panama.
Aber Aymur musste unbedingt angeben. Eines Sonntagmorgens hatte er seine Frau, seine drei Kinder, seine Eltern, Aysels Eltern und Aysel in den Laster verfrachtet. Zu den Schluchten von Bilecik. Aymur war wie üblich betrunken. Er hatte eine Kurve verfehlt. Der Laster war auf der rechten Seite gegen einen Fels geprallt. Sein Vater war auf der Stelle tot, zerquetscht. Die Nachricht erreichte Nedim brieflich in Panama. Die anderen hatten nur leichte Verletzungen davongetragen. Gebrochene Arme oder Beine. Angeknackste Rippen. Aysel war glücklicherweise mit ein paar blauen Flecken davongekommen. Den Lastwagen hatten sie schrottreif auf der Straße liegen lassen. »Aysels Vater gibt dir noch ein Jahr«, schrieb seine Mutter in dem Brief, »aber er möchte, dass du von der Idee mit dem Lastwagen ablässt.«
Er konnte ihm den Buckel runterrutschen, so sah das aus. Und er verfluchte seinen Bruder samt seiner ganzen Sippschaft. Er hatte die Nacht mit Trank und Tanz verbracht. Nur so mit Hundertdollarscheinen um sich geschmissen. Das Geld für die Heimreise. Das Geld zu seinem Glück mit Aysel. Seitdem war er drei Mal in das Dorf zurückgekehrt. Das erste Mal hatte er sich mit Aymur geschlagen. Das zweite Mal hatte er sich mit Aysels Vater gestritten. Das letzte Mal, bevor er von La Spezia nach Marseille aufbrechen sollte, hatte er Aysel ans Flussufer geschleppt und sie gevögelt.
Sie hatte ihn angefleht. Sich gewehrt. Und geweint, als er schließlich in sie eingedrungen war. Jahre aufgestauten Verlangens. So hatte er sie geliebt, mit der Wut der verlorenen Jahre. Brutal. Die ganze Zeit, die er in seiner Begierde auf ihr gelegen hatte, hatte sie unaufhörlich Gebete
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