Aldebaran
auf dem ein Hafen zu erreichen ist, der sein Wesen bestimmt, verstehst du. Der es entscheidend bestimmt. Der Atlantik und der Pazifik sind Meere der großen Entfernungen. Das Mittelmeer ist das Meer der Nachbarschaft. Die Adria ist das Meer der intimen Nähe.«
»Und das Ägäische Meer?«
Er lächelte. Das Meer der Liebe, hätte er am liebsten geantwortet. »Das Meer, das die Mythen zur Welt gebracht hat. Weißt du, dass Homer auf einer Insel nicht weit von meiner geboren wurde?«
»Die Insel Chios, ja, ich weiß. Dann bist du also auf Psará geboren?«
Er war überrascht. Nur wenige Menschen kannten Chios. Noch weniger Psará. »Kennst du die Inseln?«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Haare, in denen sich die Sonnenstrahlen fingen, wurden beinahe flammend rot. »Nur aus Büchern. Ich bin nie aus Marseille rausgekommen.«
»Hast du dich nie danach gesehnt?«
»Niemand hat mich woandershin eingeladen. Nicht mal nach Korsika!«
Sie brachen in Gelächter aus.
Diamantis hätte ihr gern von Psará erzählt. Aber Psará gehörte Melina. Es war ihr Bild, das er wieder sah, wenn er dort hin zurückkehrte. In den Straßen, auf den Steilküsten oder auch im Tal der Birnenbäume im Herzen der Insel. Auch das Haus atmete Melinas Geist. Die Rosensträucher und Orangenbäume, die Bougainvilleas, die den Hof schmückten, waren Zeugen ihrer glücklichen Vergangenheit. Daran durfte man nicht rühren, hatte er sich eines Morgens geschworen. Er hatte einen Eid geleistet und nie eine andere Frau nach Psará mitgenommen.
Eines Abends, kurz vor seiner Abreise nach La Spezia, hatte er in einem Koffer unten im Schrank vergessene Kleider von Melina gefunden. Sie hatten ihren Geruch bewahrt. Besonders eines ihrer Kleider. Sein Magen zog sich zusammen, und er hatte so etwas wie einen Schwindelanfall. Er war mit dem Gesicht in den duftenden Stoff vergraben eingeschlafen. Als er aufwachte, konnte er sich nicht an seine Träume erinnern. Nur an einen Satz, den er in einem Buch gelesen hatte und der wie die Leiche eines Ertrunkenen an die Oberfläche seiner Gedanken trieb: »Nicht zu lieben, ist ein Unglück.«
Ihr Kaffee und die Rechnung kamen. Um Diamantis und Mariette herum forderte das Leben plötzlich wieder seine Rechte ein. Autos, Busse und Mofas brausten hin und her. Wilde Hupkonzerte. Motorengeheul. Rufe. Sie waren in die Realität zurückgekehrt – ein Paar an einem Tisch unter den Platanen.
Mariette sah diskret auf die Uhr.
»Hast du noch andere Termine?«, fragte er.
»Ich müsste in die Agentur. Was machst du später?«
»Ich bin mit Nedim verabredet. Einer von unserer Mannschaft, der aufs Schiff zurückgekehrt ist. Ich muss ihm einen Gefallen tun.«
»Und danach?«
Anschließend wollte er im Mas vorbeischauen. Das Restaurant, auf das Masetto ihn hingewiesen hatte, in dem Amina verkehrte. Er wollte sie so schnell wie möglich treffen. Vielleicht würde er Frauen danach in einem anderen Licht sehen können, ohne Angst, ohne Schuldgefühl. Vielleicht konnte er sogar sein Leben anders anpacken. Denn tief drinnen wusste er, obgleich er das Meer innig liebte, dass die Seefahrerei eine Flucht für ihn war. Die Flucht treibt einen in den Tod. Auch das wusste er. Und der Tod, das war ihm klar, kam immer näher.
Diamantis hatte keine Lust zu sterben. Das Leben war voller Freuden. Mariette zum Beispiel. Sie brauchte nur zu lächeln, sodass die Grübchen in ihrem hübschen, runden Gesicht aufblitzten.
»Ich muss … Jemand, den ich treffen muss. Jemand, den ich nicht mehr gesehen habe, seit … seit langer Zeit.«
»Eine Frau?«
Mariettes Blick forschte in den verborgensten Winkeln seines Wesens. Das mochte er nicht besonders. Er zuckte die Schultern, ohne zu antworten. Sie lächelte. »Und danach?«
»Hast du was Bestimmtes im Sinn?«
»Nichts Bestimmtes. Mehr so ein Bedürfnis …«
Ihre Knie klebten immer noch aneinander.
»Ich weiß nicht, Mariette.«
»Du kommst, wenn du willst. Du kommst, wann du willst. Ich bringe Laure um neun ins Bett und gehe nie vor Mitternacht schlafen. Danach ist es etwas anderes.«
Mariette setzte Diamantis am Alten Hafen ab, nicht weit von der Grand Bar Henri, wo er mit Nedim verabredet war. Sie waren schweigend dahingefahren bei der Musik eines italienischen Sängers, den sie vor kurzem entdeckt hatte. Gianmaria Testa. Ihr Lieblingslied war Come le onde del mare. Sie übersetzte ihm eine Strophe:
Manche Abende haben eine undefinierbare Farbe,
zwischen Azur und
Weitere Kostenlose Bücher