Aldebaran
Er war sein Vater, aber allwissend war er nicht. Möglich, dass er sich täuschte. Er hatte sich im Leben schon oft getäuscht.
Jetzt saß er auf seiner Koje. Er schlug den Notizblock auf, in dem er seine Überlegungen während des Studiums der Mittelmeerkarten festhielt. Er ging seine Notizen mit der festen Entschlossenheit durch, sich von dem Frachter nicht unterkriegen zu lassen. »Wenn die Seewege sich nicht so einfach abstecken lassen, dann vielleicht, weil sie mit Berichten durcheinander geraten: Die Karten, auf denen sie verzeichnet sind, können der Fantasie entsprungen, die Begleittexte erfunden sein …«
Er trank einen Schluck Whisky direkt aus der Flasche. Sein Vater war von der Frage besessen gewesen. Im Jahr vor seinem Tod hatten sie von nichts anderem gesprochen. Historiker und Geografen, hatte er erläutert, haben sich gegen Pytheas verschworen. Besonders Strabon. Er glaubte nicht, dass Pytheas dort angelangt war, wo »der sommerliche Wendekreis zum arktischen wird« und wo der Boden so beschaffen ist, »dass man ihn weder begehen noch mit dem Schiff befahren kann«. Auch Polybios hielt diese Seereisen schlicht für Märchen.
Herodot und Plinius ihrerseits, hatte sein Vater betont, die die Erde zweifellos so ähnlich wie Pytheas sahen, glaubten daran. Wie später Aristoteles. »Verstehst du, ich denke, es gibt eine Grenze zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen. Und diese Grenze haben die großen Seefahrer überschritten.«
Diamantis sagte sich, dass darin die einzige Wahrheit des Menschen lag. In seinem Leben den Weg zwischen dem Wahrscheinlichen und dem Unwahrscheinlichen zu finden. Sie miteinander in Einklang zu bringen. Nicht indem man die Grenze überschritt, sondern beide auf dieser imaginären Linie vereinte. Bis heute war ihm das noch nicht gelungen. Ebenso wenig wie es Orient und Okzident gelungen war, sich zu lieben.
Es klopfte an seiner Tür. Nedim kam herein.
»Entschuldige, dass ich störe, aber … Da ist noch was, das ich dir nicht gesagt habe.«
»Du nervst, Nedim.«
»Ja, ich weiß. Es ist wichtig, Diamantis … Verstehst du, nun, ich habe nichts mehr. All meine Sachen, mein Seesack eben, ist in der Kneipe geblieben. Um ihn wiederzubekommen, muss ich an die neunhundert Francs hinblättern.«
»Und wo soll ich die hernehmen, deine neunhundert Francs?«
»Das mein ich nicht, Diamantis. Ich dachte, dass … Wenn du dort auftauchen würdest, könnte das die Mädchen vielleicht beeindrucken. Und dass … Diese Nachtclubs sind nicht immer ganz sauber. Das weißt du. Na ja, wenn du sagen würdest, ich weiß nicht, dass … Dass du der Kapitän bist, dann würden sie vielleicht keinen Ärger wollen. Du verstehst, was ich meine, auf die Art, dass du die Flics verständigen würdest, all das … Ich werde ihnen meinen Seesack nicht lassen, verdammt!«
»Du gehst mir echt auf den Geist.«
»Ich weiß. Sag mal, hast du nicht noch eine Kippe? Ich mein bloß, weil ich Whisky hab und nichts zu rauchen.«
»Da.«
»Super. Und?«
»Und was?«
»Nun, wir können morgen hingehen, oder?«
»Okay, wir gehen morgen. Versuchen können wir es ja mal.«
Nedim klopfte Diamantis freundschaftlich auf die Schulter und ging.
Diamantis verzichtete darauf, sich erneut in seine Seekarten zu vertiefen. Er räumte sie sorgfältig weg. Derweil notierte er in seinem Heft: »Das Mittelmeer existiert nicht nur auf Seekarten. Es füllt nicht nur Geschichtsbücher. Es verkörpert mehr als nur eine einfache Zugehörigkeit.«
Als er die Augen schloss, sah er Mariettes Gesicht wieder vor sich, ihr Lächeln mit den beiden Grübchen. Er war froh, ihre Einladung angenommen zu haben. An Bord der Aldebaran erstickte er.
12 Wer weiß morgen noch, auf welcher Insel Kalypso Odysseus verführte?
Von dort, wo er stand, hatte Diamantis einen einmaligen Blick über die Reede. Vom Cap de l’Aigle ganz im Süden von La Ciotat bis zur Landspitze Grenier im Osten von Lecques.
Auf das Terrassengeländer der Villa gelehnt, ließ er sich von den Düften betören, die aus dem Garten aufstiegen. Eine Mischung aus Pinie und Lavendel. Seine Ohren füllten sich mit dem eindringlichen Gesang der Zikaden. Mit dem Aufleben der Sinne lief eine Welle der Entspannung durch seinen Körper. Ein Glücksgefühl. Ein Frieden, wie er ihn seit langer Zeit nicht mehr erlebt hatte.
Hier wäre gut sterben, unter den Olivenbäumen in den Tiefen des Gartens. Aber das hatte er schon vor zwanzig Jahren gedacht. Zu Hause in Agios
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