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Aldebaran

Aldebaran

Titel: Aldebaran Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Schläfe eingefangen und war an der Theke zusammengesunken. Dort war er mit offenen Augen hocken geblieben, ohne die geringste Lust, sich zu bewegen. Der Bootsmann und der Funker hatten ihn zurück an Bord gebracht. Am frühen Morgen, die Augen starr an die Decke geheftet, zählte er noch immer die Schläge.
    Jetzt brachte er die Hiebe von letzter Nacht und die vor zwanzig Jahren kassierten Faustschläge durcheinander. Er dachte wieder an den kalten Lauf der Knarre in seinem Mund. An die Drohungen. Sich Amina zu nähern, war immer noch gefährlich. Warum? Nur sie könnte es ihm vielleicht erklären.
    Die Vorstellung, sich eine Kugel einzufangen, fand er alles andere als erheiternd, aber er wollte die Sache jetzt bis zum Ende durchziehen. Das hatte er sich so zurecht gelegt. Er musste nur um Verzeihung bitten, weiter nichts. Vielleicht war das kindisch. Aber danach, erst danach konnte er sein Leben neu gestalten. Ohne diesen Zwang, endlos über die Weltmeere zu fahren. War er denn nicht ständig auf der Flucht vor dem, was nach dem Liebesakt entstehen könnte? Die Liebe. Die Liebe, und alles was damit zusammenhing. Das Aufbauen der Zukunft. Gegenseitige Treue. Vertrauen. Wie konnte er sich eine Zukunft aufbauen, ohne auch nur ein einziges Mal sich die Mühe machen, für all die vergangenen Dummheiten um Verzeihung zu bitten? Vergebung von denen, die man verletzt hat. Vergebung von denen, die man fortan lieben möchte.
    Deshalb war auch mit Melina alles schief gegangen. Er hatte nicht um Verzeihung gebeten. Also hatte sie ihm nicht verziehen. Und ihre Liebe hatte Schiffbruch erlitten. Er war mehr denn je überzeugt, dass er mit Melina hätte glücklich werden können. Das Meer war für ihre Liebe kein Hindernis, aber der Mangel an Vertrauen schon, und diese ewige Flucht, die er seinen Beruf nannte. Oder seine Berufung, wenn sie sich stritten.
    Er hatte immer Argumente für seine Fehltritte. Und Odysseus auf der Zunge, um das letzte Wort zu behalten. Ganz wie sein Vater, wie oft hatten sie gehört, wie die Eltern sich zankten. Wenn sein Vater antwortete, dass die »Vielweiberei« zur mediterranen Lebensweise gehörte, folgte Türknallen und Abtauchen für eine Nacht oder eine Woche. Denn der mediterrane Mann, so hatte Diamantis später gelesen, glaubt das Ruder noch immer in der Hand zu haben, wenn er die Orientierung schon längst verloren hat.
    Melina wollte die Rolle der Penelope nicht. Doch, wollte sie schon, aber dann auch die von Circe und Kalypso! Darin war sie zweifellos noch griechischer als Diamantis. Nicht die Heirat in ihrer Endgültigkeit zählte, sondern die Freude an der Liebe. Ganz anders als das angelsächsische romantische Trallala. Aus Liebe sterben. Aus Liebe töten. Sie liebte, weil Liebe das Leben war. In der Liebe war Amina vor Melina gekommen, aber sie verkörperte bereits seine Liebe zu Melina, die er schon so lange kannte. Dies waren nur zwei Seiten einer einzigen Liebe, die er zerbrochen hatte. Nach zwanzig Jahren Irrfahrt sehnte Diamantis sich nach einem festen Hafen. Er wollte lieben. Aminas Vergebung war unentbehrlich.
    Er drehte sich um, wobei er sich möglichst sparsam bewegte. Mit den Augen prüfte er die Ecken der Kabine, so weit er sie sehen konnte. Es waren keine Kakerlaken zu sehen. Er schloss die Augen. In ihrer Nachricht nahm Amina keinen Bezug auf die Notiz, die er ihr gestern übermittelt hatte. Wer war dieses Mädchen, das den Umschlag für ihn hinterlegt hatte? Wie kam es, dass Nedim sie kannte? Und woher? Wo hatte dieser Trottel sich wieder rumgetrieben? Der Blaue Papagei. Das Habana. Das Habana, scheiße! Amina arbeitete im Habana. Sie war eins der beiden Mädchen, die Nedim übers Ohr gehauen hatten. Amina war keine Nutte, sondern Animierdame. Nedim hatte keine Amina erwähnt. Welche Namen hatte er genannt? Lalla. Lalla war diejenige, die ihn an der Nase herumgeführt hatte. Und die andere? Eine Alte, hatte er gesagt. Gaby? Gaby.
    War Amina im Habana gewesen, als er über Nedims Seesack verhandelt hatte? Warum war sie nicht auf ihn zugekommen? Vielleicht konnte sie nicht? Aber wer hatte Dug vorgeschlagen, seinen Pass gegen Nedims Sachen einzuhandeln? Lalla war sicher nicht befugt dazu. Nein, sie war zu jung. Also Gaby. Vielleicht war sie die Chefin. Eine Alte, was hieß das für Nedim? Fünfzig? Vierzig? Gaby. War Gaby Amina?
    Das war es, oder? Ja, das war es.
    Aus dem Gang kam ein Geräusch. Er sah auf die Uhr. Zehn nach fünf. Verdammt, er war eingeschlafen. Er richtete

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