Aldebaran
Männer, Alkohol und Drogen.
Wie sie ihm gestanden hatte, war sie einundzwanzig. Sie stammte aus einem kleinen Dorf, dessen Namen er schon vergessen hatte, in der Nähe von Iasi in Rumänien. Sie hatte immer auf dem Land gelebt. Ihr Körper war mit den Jahreszeiten gereift, mit der Arbeit, harter Arbeit. Er war kräftig und muskulös. Ein wenig wie der von Céphée. Körper, die nicht so leicht vor täglicher Mühsal und Schicksalsschlägen in die Knie gingen.
Er hatte Stella auf der Terrasse des Templiers kennen gelernt, einer Bar an der Place Cézanne, oberhalb vom Cours Julien. Eines der neuen Viertel von Marseille mit einem Hauch von Schickimicki. Den Tipp hatte er von einigen Hafenarbeitern. »Dort wimmelt es nur so von leichten Mädchen aus dem Osten. Jugoslawinnen, Rumäninnen, Russinnen … Kaum setzt du dich hin, umschwirren sie dich wie Fliegen. Schließlich suchst du dir eine aus … Pass auf«, hatten sie gewarnt, »die meisten sind zugefixt bis oben hin.«
Seine Wahl war auf Stella gefallen, wegen ihres Äußeren. Er mochte keine zerbrechlichen Frauen. Sie waren zu passiv im Bett. Er verstand unter dem Liebesakt eine körperliche Konfrontation. Stella hatte ihn nicht enttäuscht. Sie hatte Kraft und genug Hass, um ihm die Befriedigung zu verschaffen, die er brauchte.
»Ich habe nichts mehr, woran ich denken kann«, sagte sie.
Er hörte nicht zu. Das hatte sie ihm schon mal erzählt. Vorhin, auf der Kaffeeterrasse. Vater und Brüder von den Partisanen erschossen, nach dem Ende von Ceaucescu. Ihr Vater war Parteisekretär im Dorf gewesen. Vasil, Chef der Milizen, hatte sie vergewaltigt. Ein junger Bauer in ihrem Alter, der mit ihr aufgewachsen war, fast auf jeder Dorffete mit ihr getanzt und ihr zu Hause oft geholfen hatte. Ein Schützling ihres Vaters. »Vasil wird ein guter Kommunist und ein guter Ehemann für dich«, wiederholte er jedes Mal, wenn er ihn sah. Sie hatte sich immer geweigert, mit ihm zu schlafen, weil sie nicht sicher war, ob sie sich von diesem Lumpenhund schwängern lassen wollte, der ihr kein besseres Dasein bieten würde als ihr Vater und ihre Mutter. Sie wusste, dass das Leben woanders schöner war. In Bukarest. Und erst recht in den kapitalistischen Ländern. In Italien, und vor allem in Frankreich.
An jenem Tag hatte Vasil Rache genommen. An dem Elend. An den Kommunisten. Und besonders an ihr. Das stand ihm zu. Er hatte nichts zu befürchten. Heute verkörperte er die Macht. Nicht mehr ihr Vater.
Sie hatte ihr Bündel geschnürt und sich auf den Weg nach Bukarest gemacht. Dort gab es keine Scham mehr, keine Schuldgefühle. Niemand kannte sie. Das Nach-Ceaucescu war nicht viel anders als das Vor-Ceaucescu. Die Reichen waren immer noch reich und die Armen noch ärmer.
Sie war Nutte geworden, was sonst? Weil man auf die Art gut und schnell zu Geld kommt. Jetzt war sie hier. In Marseille. Seit sechs Monaten. Sie verdiente immer noch gut, gab aber doppelt so viel für Miete, Essen, Kleidung aus … Alles nur, um zu sagen, dass sie über ihren Tarif nicht verhandelte. Die Nummer kostete tausend Francs, aber solide, ohne auf die Uhr zu schauen. Sie war gegen Stundenlohn.
Abdul war bei der Filiale von American Express auf der Canebière vorbeigegangen und hatte fünftausend Francs von seinem Sparkonto abgehoben. Sein Notgroschen. Seit die Aldebaran im Hafen festlag, hatte er ihn noch nicht angerührt. Er bot Stella zweitausendfünfhundert für den ganzen Nachmittag.
»Einverstanden«, hatte sie zugestimmt. »Aber erst spendierst du mir was zu essen. Ich sterbe vor Hunger.«
Sie aßen gegrillte Entrecotes, Pommes frites und Salat. Bier für sie. Einen Halben kühlen Rosé für ihn. Sie redete genauso so viel wie Nedim, und schließlich vergaß er all seine Probleme. Beim Kaffee wusste er alles über sie. Und er war ganz scharf darauf, mit ihr zu schlafen.
Jetzt hörte er deutlich das Rumoren der Stadt. Es strömte durch das offene Fenster ins Schlafzimmer. Hupen. Quietschende Bremsen. Polizeisirenen. Menschliche Stimmen. Manchmal Flügelschläge von Tauben. Der gleiche Lärm wie in allen Häfen der Welt, der dich überflutet, wenn du mit einem unbekannten Mädchen geschlafen hast, das du nie wieder sehen wirst. Das Murmeln der Nostalgie. Das dich daran erinnert, dass du nicht von hier bist. Nur ein Fremder auf der Durchreise.
Ein verlorener Seemann.
Stella hatte sich zu ihm umgedreht. Sie streichelte seinen Schwanz mit mehr Geschick als Zärtlichkeit.
»Grübeln nützt
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