Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
was Sir John selbst nicht sagen konnte, ohne Verrat zu begehen: »Es ist weder Eure noch meine Schuld, Sir, sondern Schuld der Prinzessin und ihres allzu nachsichtigen Vaters. Die Zeit wird uns die Antwort geben, die wir suchen; wenn wir Glück haben, trägt niemand die Schuld. Wir wollen das Tier sorgfältig beobachten; vielleicht erholt es sich bald, und unsere Ängste sind unbegründet. Bis dahin wollen wir die Sache für uns behalten.«
Ihre Ängste erwiesen sich nicht als unbegründet, sondern wurden noch verstärkt. In den folgenden Stunden tänzelte das Pferd noch rasender umher und rieb sich immer wieder den Hals, bis kaum noch ein Stückchen heiler Haut zu sehen war. Dann wurden seine Bewegungen langsamer, doch nicht etwa, weil sein Zustand sich gebessert hätte. Es hatte einfach all seine Energie verbraucht. Am Ende war es ruhig, stand still in der Mitte des kleinen Pferchs, und sein keuchender Atem war selbst von dem kleinen Torfenster aus zu hören. Bei jedem flachen Atemzug bebten seine Flanken. Dann begann das Tier leicht zu schwanken, versuchte sein Gleichgewicht zu halten, mußte seinen tapferen Kampf aber schließlich erschöpft aufgeben. Mit dem schrecklichen Geräusch eines zerbrechenden Knochens stürzte es zu Boden, und Alejandro bedeckte sein Gesicht mit den Händen, weil er den Todeskampf des einst prachtvollen Hengstes nicht mit ansehen konnte.
»Behaltet das vorerst für Euch, Sir John.« Er ließ den älteren Mann mit beschämt gesenktem Kopf zurück und ging auf die Kapelle zu. Dort fand er Matthews, der zwischen den hölzernen Gitterstäben in den Hof hinausstarrte und beobachtete, wie seine Kameraden sich im Schwertkampf übten. Er sah recht gesund aus und hatte keine Beschwerden geäußert, aber Alejandro wollte sich nicht auf Matthews’ Fähigkeit verlassen, ein berichtenswertes Symptom zu erkennen. Er begrüßte den Mann und erkundigte sich nach seiner Verfassung.
»Ich fühle mich ganz wohl, danke, Sir«, lautete die rasche Antwort des Soldaten. »Nur beneide ich meine Kameraden, weil sie da draußen ohne mich üben. Mein Bauch wird bei dieser Untätigkeit fett, und ich bin träge wie ein alter Wurm.«
Die vermeintliche Trägheit erregte das Interesse des Arztes, und so fragte er: »Fühlt Ihr Euch müde oder lethargisch?«
»Wie ich sagte, Sir, nur träge, aber ich bin sicher, das kommt von dem untätigen Leben, das ich in diesem Gelaß führe.«
»Schmerzt Euer Kopf? Oder habt Ihr einen steifen Hals?« Der Soldat antwortete: »Gott sei Dank nicht. Ich versichere Euch, Doktor, es geht mir gut.«
Alejandro beendete das Gespräch mit Matthews und schaute in dem dunklen Raum nach Reed. Endlich erblickte er eine rundliche Gestalt, die über den Tisch gebeugt dasaß und aufmerksam etwas studierte, das wie die Zeichnungen der Prinzessin aussah. Er wollte den Mann schon rufen, doch dann zögerte er, da er ihn nicht unnötig beunruhigen wollte. Doch für den Rest des Tages blieb er in der Nähe und beobachtete genau, was die beiden Männer taten, nur für den Fall, daß ihr Befinden sich plötzlich änderte. Und als man ihn am nächsten Morgen erneut rief, wußte er, daß es nicht um das Pferd ging.
Als er die Kapelle erreichte, fand er Sir John in einiger Entfernung vor den hölzernen Gitterstäbe stehend; hinter ihm war die ganze Truppe der Soldaten versammelt, und man hörte unruhiges Gemurmel. Weitere Mitglieder des Haushalts fanden sich ein, manche noch in den Nachtgewändern, denn die Nachricht, daß unten im Hof etwas nicht stimmte, hatte sich rasch verbreitet.
Matthews kauerte in einer Ecke der Kapelle, den Rücken an die Wand gepreßt und blankes Entsetzen im Gesicht, denn der Schneider James Reed war über dem Tisch zusammengesunken, die runde Wange flach auf die Pergamente der Prinzessin gepreßt, die Augen weit offen und unverwandt auf Matthews gerichtet, als könne er durch den Schleier des Todes noch sehen. In seinen Mundwinkeln hingen Reste von Erbrochenem, und seine Lippen waren so grotesk verzerrt, wie es nur möglich ist, wenn der Körper keine Kontrolle mehr über sie hat. Wäre die Situation nicht so gräßlich gewesen, hätte der Arzt beinahe gedacht, der Patient amüsiere sich über irgend etwas Seltsames.
Matthews dagegen fand seine Situation ganz und gar nicht erheiternd. Als er Alejandro erblickte, kam er an das vergitterte Fenster gerannt und rüttelte heftig an den Stäben. Er wollte dem unheimlichen Leichnam entkommen, mit dem er seine Gefangenschaft
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