Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
sich, wie sich jemals einer nach diesem stinkigen Weib umdrehen konnte. Ja, Sie müssen immer damit rechnen, daß etwas, woran Sie nicht glauben, plötzlich wahr wird.«
O Gott, dachte Caroline, wenn ich mich nur erinnern könnte, was ich glaube ... Eine Träne lief ihr über die Wange.
Die Frau sah die Träne, legte eine Hand auf Carolines Arm und sagte: »Ach du meine Güte, jetzt habe ich Sie verletzt. Bitte entschuldigen Sie.«
Caroline versuchte, die Frau anzusehen, aber ihr Blick wurde immer wieder unscharf. Als sie schließlich klar sehen konnte, erkannte sie, daß die merkwürdige Frau sie anlächelte. Unter normalen Umständen wäre ihr deren Aussehen nicht sonderlich angenehm gewesen; ihre Kleider waren schmutzig, ihr Haar wirr, ihr Alter unbestimmt, ihr Lächeln voller Zahnlücken. Nicht mein üblicher Umgang ... Trotzdem fühlte sie sich seltsam getröstet.
Ein Hafen im Sturm, dachte sie. Sie schüttelte den Kopf, um der Frau zu zeigen, daß sie sich irrte.
»Na, irgend etwas scheint Sie aber zu bedrücken. Haben Sie sich verirrt?«
Unter großen Schmerzen nickte Caroline. Dann zog sie eine Grimasse.
»Ich hab mich auch schon ein paarmal verirrt«, sagte die Frau, »aber irgendwie finde ich mich immer wieder zurecht.« Sie tätschelte Carolines Arm. »Das werden Sie sicher auch, wenn es an der Zeit ist.«
An der Zeit ... finden ... Diese Worte gingen Caroline noch durch den Kopf, während sie das Bewußtsein verlor. Die Last wach zu sein, war plötzlich zuviel für ihren angegriffenen Körper, er wollte nicht mehr denken und sich auch nicht mehr bewegen, denn diese einfachen Aktivitäten schienen mehr Energie zu erfordern, als er aufbringen konnte.
Die Frau sagte nichts und tat nichts. Sie wartete geduldig, bis sie sicher war, daß Caroline schlief. Dann streckte sie eine rauhe Hand aus und streichelte über Carolines fettiges Haar. »Sie ruhen sich jetzt aus«, sagte sie, »und ich werde mich um Sie kümmern.«
Die Hände fest um die in ihrem breiten Schoß liegende braune Tasche geschlossen, wachte sie schweigend über ihren schlafenden Schützling und beobachtete die Passanten. Die wohlhabenden Londoner schenkten ihnen keinerlei Aufmerksamkeit, denn die meisten zogen es vor, ihre verstören- de Anwesenheit nicht zur Kenntnis zu nehmen, weil sie sonst womöglich mitfühlend reagieren müßten. Hin und wieder lauschte die Frau auf Carolines Atem, und als er im Schlaf tief und gleichmäßig geworden war, stand sie von der Bank auf und legte ihre Habseligkeiten in den Einkaufswagen. Dann hob sie Caroline mit überraschender Kraft hoch und legte sie auf die Sachen im Wagen. Sie pfiff leise und sah die Gasse hinunter, wo ihr Gefährte wartete; winkend bestätigte er, daß er sie beobachtet hatte.
Sie tastete in der Tasche ihres schmutzigen Kleides nach Brotkrumen; nachdem sie den Tauben einige Handvoll zugeworfen hatte, faßte sie den Griff des Wagens und ging mit ihrer träumenden Passagierin die Straße hinunter, unzusammenhängend vor sich hin murmelnd.
Eine lächelnde Frau in einer kürzeren Version der grünen Biocop-Uniform betrat durch eine verspiegelte Schiebetür in einer Wand den Raum mit dem Podest.
Biokrankenschwester? dachte Janie. BiocopSanitäterin?
Die Frau schob einen metallenen Wagen mit medizinisch aussehenden Gegenständen vor sich her; trotz ihrer Angst betrachtete Janie neugierig die Sachen auf dem Edelstahltablett, das oben auf dem Wagen stand. Sie sah eine merkwürdige und etwas bedrohliche Sammlung von langen Metallsonden und Klammern, ein paar Klebepflastern und dergleichen, und nichts davon fand sie im Hinblick darauf, was in den nächsten Augenblicken geschehen würde, sonderlich beruhigend; allerdings waren die Gegenstände interessant.
»Bitte ziehen Sie Ihren Transferanzug aus«, sagte die Frau.
»Aber dann bin ich nackt.«
»Ja, Madam, das verstehe ich.« Die Krankenschwester sah mitfühlend aus, klang aber entschlossen. »Es tut mir leid, wenn Ihnen das unangenehm ist, aber Sie können bei dem Vorgang keine Kleider tragen. Das ist wie bei jeder anderen ärztlichen Untersuchung. Kleidung kann die Resultate verfälschen.«
Über wie vielen nackten Patienten auf Operationstischen habe ich gestanden? fragte sich Janie. Habe ich sie immer so behandelt, daß sie ihre Würde behielten? Sie erinnerte sich an einen Patienten, an dem sie eine Bauchoperation vorgenommen hatte. Als sie ihn vorbereiteten, hatten sie und die anderen Mitglieder ihres Teams gesehen, daß er
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