Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
wohl auf eine so gräßliche Situation reagiert hätte.
Sie hätte natürlich gesungen, dachte Janie.
Tröstliche Lieder kamen ihr in den Sinn. Wenn du durch einen Sturm gehst, halt den Kopf hoch ... Ich erinnere mich einfach an die Dinge, die ich am liebsten habe ...
Gleich darauf ertönte ein leises Surren, als Tausende von winzigen Metallzinken aus den Platten glitten. Jede hielt automatisch inne, wenn sie ihre Haut erreichte; zusammen bildeten sie so exakt ihre Körperformen ab.
»Jetzt stehen Sie bitte ganz still! Nur noch ein paar Sekunden!«
Janie, gefangen in der Maschine ihrer Alpträume, bedrohlich berührt von zehntausend elektronischen Fühlern, die jedes ihrer Geheimnisse aufzeichneten, hätte auch dann nicht singen können, wenn es um ihr Leben gegangen wäre. Die metallenen Zinken lähmten sie, und während sie so dastand und nicht einmal mehr zittern konnte, hörte sie das Klicken und Surren, mit dem die Sender ihre Daten übermittelten.
Sie dachte an etwas, das ihr besonders lieb war, ihren sechzehnten Geburtstag, als ihre Tante, eine erfolgreiche Goldschmiedin, ihr eine einreihige Kette aus Perlen geschenkt hatte, die von der Mitte aus in perfekter Harmonie immer kleiner wurden. In der Intimität ihres Jungmädchenzimmers hatte Janie sich bis auf die Unterwäsche ausgezogen und sich mit dieser prächtigen Kette vor den mannsho- hen Spiegel gestellt. Lachend hatte sie in ein imaginäres Mikrophon gesprochen: »Ich möchten allen Austern der Welt danken, daß sie dazu beigetragen haben, diesen Tag möglich zu machen…«
An diese Erinnerung klammerte sie sich, um nicht den Verstand zu verlieren, als sie zwischen den Metallzinken stand und keine Perlen, sondern ein durchsichtiges Plastikhalsband trug. Ängstlich und mit weißen Fingerknöcheln hielt sie den Griff über ihrem Kopf gefaßt. Sie stellte sich vor, sie sei dieses junge Mädchen, straff und unschuldig und hoffnungsvoll, in der ersten Blüte ihrer Erotik. Die Realität, eine Frau in mittleren Jahren, kühl und mit leicht erschlaffendem Körper, die in diesem kahlen Raum stand und von unsichtbaren Beobachtern mit fragwürdigen Absichten angestarrt wurde, war völlig unvorstellbar. Während die winzigen Metallzinken in perfekter Synchronisation ein leichtes elektrisches Summen durch ihren Körper schickten und jede Zelle, jedes Molekül, jedes Atom ihres physischen Seins verzeichneten, weinte Janie innerlich um den Verlust ihrer Unschuld und den Tod ihrer Hoffnung.
15
Sie ritten über die unebene, staubige Straße von Windsor zu dem Gut, auf dem Adele als Kind mit ihren Eltern gelebt hatte, bevor sie nach Windsor geschickt wurde, um Prinzessin Isabella zu dienen.
»Ich habe diesen Weg so oft zurückgelegt, daß ich jeden Baum und jeden Stein kenne«, sagte sie. »Ich glaube, ich würde ihn mit geschlossenen Augen finden, wenn das Pferd gehorsam wäre.«
»Und - ist dieses Pferd gehorsam?«
»Es ist ein sehr gutmütiges Tier. Seht selbst«, sagte sie.
Da sie den Weg so gut kannte, war er auf dem engen Pfad hinter ihr geritten. Jetzt schloß er zu ihr auf und sah, daß die Kleine Kate an Adeles Busen eingeschlafen war. Ich wünschte, ich wäre an ihrer Stelle, dachte er ein wenig neidisch.
»Sir John hat ein gutes Pferd gewählt«, sagte er.
»Ja, allerdings«, sagte Adele. »Es ist so sanft, daß ich selbst einschlafen könnte.«
Die Wälder waren kühl und erstaunlich ruhig; nur ihre Worte und der Hufschlag der Pferde durchbrachen die Stille. Als über ihnen ein Falke schrie, war es wie eine Störung ihrer Intimität.
Die Luft, die Alejandro atmete, war warm und süß, und obwohl er wußte, daß die Reise, die er antrat, unmöglich ein gutes Ende nehmen konnte, hatte er ein Gefühl von Frieden. »Es ist schwer zu glauben, daß es in einer Welt wie dieser solchen Aufruhr gibt.«
Adele seufzte tief, und dabei hob und senkte sich ihre Brust.
Kate rührte sich im Schlaf, und Adele umfaßte sie fester. »Mich erwartet zweifellos noch mehr Aufruhr.«
»Wieso?« fragte Alejandro.
»Seit dem Tod meiner Mutter bin ich die alleinige Besitzerin der Ländereien und Güter meines Vaters«, erklärte sie. »Und die sind nicht unbeträchtlich.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Alejandro. »Was ist daran schwierig, wenn man solches Glück hat?«
»Wie mein Vater mir gern sagte, kommt Glück nicht von allein. Um Wohlstand zu schaffen, muß man arbeiten. Er war ein kluger und sorgfältiger Verwalter seiner Ländereien, und da er keinen
Weitere Kostenlose Bücher