Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
»Nur eine Minute Ruhe, dann bringen wir es zu Ende.«
Janie warf Bruce schweigend einen besorgten Blick zu; er wirkte ebenso ängstlich. Sie streckte die Hand aus, berührte Sarins Schulter und sagte: »Mr. Sarin ... ich glaube, wir sollten jetzt nicht aufhören . es ist nur noch eine Sache zu tun. Danach können Sie ausruhen, so lange Sie wollen, und Sie werden nicht gestört werden.«
Er antwortete nicht. »Mr. Sarin ...«, sagte sie und berührte ihn nochmals.
Er trieb dahin, er spürte eine sanfte Berührung, aber sie dauerte nicht an, und er entfernte sich da- von. Er war draußen auf dem Feld, lief spielerisch seiner Mutter nach, während sie in ihrer Schürze Kräuter sammelte. Die Sonne stand hoch am Himmel und schien sehr hell, denn es war Sommer, und das Leben war prachtvoll. Insekten summten träge um sie herum, und er streckte die Hände aus, um eines zu fangen, als es an ihm vorbeiflog. Fröhlich lachend schloß er die Hände um den kleinen weißen Schmetterling ; dann rannte er zu seiner Mutter und sagte ihr , sie müsse aufhören und sich anschauen , was er da habe . Er öffnete die Hände , und der Schmetterling flog träge davon , als habe er seine Gefangenschaft gar nicht bemerkt. Sie lächelte und lachte und teilte sein Entzücken ; sie war jung und schön und voller Liebe, und all das gehörte ihm. Sie nahm ihn in die Arme und wirbelte ihn herum und herum, seine kleinen Beinchen flogen durch die warme Luft . Er schloß die Augen , und das Licht der hellen Sonne schien durch seine dünnen Lider , ließ ihn das warme Licht spüren .
Es war das weißeste Licht , das er je gesehen hatte, das reine Licht der Freude. Er gab sich ihm ganz hin.
Janie rüttelte ihn fester. »Mr. Sarin?« fragte sie.
29
Bei Alejandros wildem Ritt übers Land konnten andere Reisende, die das Pech hatten, ihm im Weg zu sein, nur schnell zur Seite springen. Er peitschte sein Pferd gnadenlos und legte die Strecke, die sonst einen halben Tag dauerte, in nur drei Stunden zurück; bald näherte er sich den knorrig gebogenen Eichen jenseits der großen Wiese. Sein schweißnasses Pferd schnaubte unwillig, aber Alejandro ging es nur darum, daß das Tier den Weg beendete. Laut schrie er ihm zu: »Wenn du zu nichts mehr nütze bist, finde ich leicht ein anderes Pferd, aber keine andere Adele.«
Er trieb das Pferd zwischen den ehrwürdigen Bäumen hindurch und folgte dem Pfad zur Lichtung. Dort sprang er ab, rannte zur Vorderseite der Hütte und blieb wie angewurzelt stehen. Er starrte auf das vertrocknete Bett dessen, was bei seinem vorigen Besuch eine munter sprudelnde Quelle gewesen war; er sah nur Matsch und Schlamm, der zwar den unangenehmen Schwefelgeruch hatte, aber die trübe Flüssigkeit, die er zuvor gesehen hatte, war nicht mehr da. Er rannte zum Pferd zurück, nahm sein Buch aus der Satteltasche und begann, die Seiten durchzublättern, verzweifelt auf der Suche nach einer Anleitung, wie Adele zu heilen wäre.
Er hörte die alte Frau, bevor er sie sah. Ihre Schritte waren zwar leicht, aber auf den Steinen hinter ihm doch klar auszumachen.
Er wandte sich nach ihr um, und sie lächelte ihn an. »Muß ich noch einmal Eure Hand führen, Arzt?«
Der rote Schal bedeckte noch immer ihre Schultern, selbst an diesem warmen Tag, und kennzeichnete sie unmißverständlich als die Person, die er zuvor nicht hatte finden können.
»Wie kommt es«, fragte er hektisch, »daß Ihr noch vor so kurzer Zeit in London wart und jetzt hier seid? Jemand, der so langsam reist, wie das bei Euch sicher der Fall ist, kann das doch eigentlich gar nicht schaffen.«
»Habt Ihr Zeit für solch müßiges Geschwätz, oder sollen wir uns um die dringende Angelegenheit kümmern, die Euch in solcher Hast zu mir geführt hat?«
Sie drehte sich um und ging in die Hütte. Nach kurzer Zeit kam sie mit einer Flasche der milchiggelben Flüssigkeit zurück, die sie Alejandro reichte.
Er legte sein Buch nieder und nahm sie. »Und was ist mit dem Staub der Toten?«
»Davon habe ich nur eine kleine Menge für Euch. Ich war dabei, mehr zu bereiten, als Ihr gekommen seid, und kann es Euch morgen geben.« Sie reichte ihm einen kleinen Beutel, den er rasch öffnete. Als er die geringe Menge Pulver darin sah, schaute er Mutter Sarah ungläubig an.
»Was? So wenig? Wie soll ich da meine Geliebte retten ?«
In der Stimme der alten Frau lag große Traurigkeit. »Ich kann nicht sagen, ob es Euch gelingen wird. Verschwendet keinen Tropfen von dem Heilmittel;
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