Alejandro Canches 01 - Die siebte Geissel
fünfzehn Jahre praktiziert«, sagte Janie.
»Sie haben?«
»Ja. Im Augenblick praktiziere ich nicht.«
»Warum nicht? Gehört das zu der langen, traurigen Geschichte, die Sie erwähnt haben?«
»Ja. Wollen Sie sie hören? Das dauert eine Weile.«
Er sah auf seine Uhr. »Vorerst wird man uns hier noch nicht raus werfen.«
»Okay, gut«, sagte sie. Sie atmete tief ein. »Als es zu den ersten Ausbrüchen kam und so viele Leute starben, hatte gerade die ganze medizinische Umorganisation stattgefunden. Sie hatten die Formel für die Verteilung der Ärzte noch nicht optimiert; wenn ich darüber nachdenke, haben sie das immer noch nicht getan. Jedenfalls gab es auf den verschiedenen Fachgebieten viele überschüssige Ärzte. Ich war Chirurgin; die Chirurgie gehörte zu den überbelegten Kategorien. Die Allgemeinärzte kamen regelmäßig mit Infizierten in Berührung, und infolgedessen starben viele von ihnen. Es war keiner übrig, um Halsschmerzen zu behandeln, und so erließ der Kongreß eine Notverordnung, in der bestimmte Spezialistengruppen der Allgemeinmedizin und anderen Mangelbereichen zugeteilt wurden. Aber es gab noch immer zu viele Ärzte für die verbliebene Bevölkerung, und ein großer Teil der Mittel für die Gesundheitsvorsorge wurde von den Kosten, die durch die Epidemie entstanden waren, aufgefressen; um das Bundesbudget auszugleichen, wurden etliche von uns buchstäblich kaltgestellt.«
»Kaltgestellt?« sagte er. »Ich verstehe nicht.«
»Man hat uns einfach befohlen, nicht weiter zu praktizieren.«
»Hört sich an wie ein gefundenes Fressen für Rechtsanwälte.«
»O ja, das war es auch. Die Klagen werden dauern bis in alle Ewigkeit. Ich bin an mehreren Gemeinschaftsklagen beteiligt. Aber mein Anwalt sagt, unter Notstandsbedingungen wären solche Maßnahmen im wesentlichen legal. Krieg, Hungersnot, Pest, solche Situationen. Der Kongreß kann durch Gesetze alles legal oder illegal machen. Letztlich liegt es bei den Gerichten, darüber zu entscheiden, ob die Gesetzgebung gegen die Verfassung verstößt oder nicht, und wir wissen ja alle, wie schnell die arbeiten. Also ist die eigentliche Frage nicht, ob diese Bestimmungen standhalten oder nicht, für mich jedenfalls nicht; die eigentliche Frage ist, wie lange es dauern wird, sie wieder loszuwerden. Und das kann eine Weile dauern. Inzwischen haben sie uns die Möglichkeit gegeben, an einer Lotterie teilzunehmen, bei der uns nach dem Zufallsprinzip neue medizinische Fachgebiete zugeteilt wurden, mit Umschulung, falls nötig.«
»Und Sie haben offenbar von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht«, sagte er.
Sie nickte.
»Und was ist dabei herausgekommen?«
»Forensische Archäologie.«
»Na, das ist so ziemlich das obskurste Spezialgebiet, von dem ich je gehört habe.«
Janies Ton wurde sehr sarkastisch. »Nicht so obskur, wie man meinen sollte. Die erforderlichen Fertigkeiten liegen irgendwo zwischen denen eines Archäologen und eines Leichenbeschauers. Da gab es nämlich viele freie Stellen, weil von denen auch eine Menge umgekommen sind. Sie hatten zuerst mit den Leichen zu tun.«
»Und starben zweifellos wie die Fliegen.«
Sie nickte.
»Sie sprachen heute nachmittag von einer Zulassung.«
»Ja. Ich muß bestimmte Kurse belegen, die ich vorher nicht gebraucht hätte, und dann muß ich eine Doktorarbeit schreiben. Darum dreht es sich bei der gegenwärtigen Reise.«
Bruce atmete tief aus und schüttelte den Kopf. »Ich vermute, es geht uns hier viel besser, als wir gedacht hatten. Vielleicht werde ich ganz hierbleiben.«
»Haben Sie Ihre Staatsbürgerschaft geändert?« fragte Janie.
»Nein«, sagte er, »und das werde ich wohl auch nie tun, denke ich. Ich bin zu gern Amerikaner. Zumindest hier verschafft mir das ein gewisses Prestige.«
»Wann waren Sie zuletzt in den Staaten?«
»Oh, Gott, wenn Sie mich das fragen ... das ist mindestens fünf oder sechs Jahre her.«
»Also vor dem Ausbruch.«
»Ja.«
Janie seufzte. »Ihnen würde vielleicht nicht so viel an Ihrer Staatsbürgerschaft liegen, wenn Sie seither dort gewesen wären. Es geht wirklich drunter und drüber.«
»Ich habe einiges gehört, Zeitungen gelesen, CNN gesehen; wahrscheinlich muß man es aus erster Hand erfahren.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte sie. »Das Leben in den Staaten hat heutzutage so etwas Martialisches, das in den Medienberichten nicht zum Ausdruck kommt. Keiner redet groß darüber, aber alle wissen, daß es da ist. Es ist nicht so, als würde
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