Alejandro Canches 03 - Der Fluch des Medicus
Blackwell. Und jetzt hatte er einen zwölfjährigen Sohn.
Gott ist fürwahr gütig.
Alejandro wollte jedoch ganz sichergehen. »Nirgendwohin - das ist eine gewagte Behauptung, die Ihr da aufstellt.«
»Da habt Ihr recht.« Ein wehmütiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Als Alejandro ihm aufmunternd zunickte, fuhr er fort: »Ich habe sie alle, einen über dem anderen, in einem Grab beerdigt, nicht weit von Canterbury entfernt im Süden.«
Nach einer angemessenen Pause sagte Alejandro: »Gestattet mir, Euch mein aufrichtiges Beileid auszusprechen. Aber ich
muss Euch etwas gestehen - vor vielen Jahren, als ich durch diese Gegend reiste, sah ich das Grab, das Ihr für sie ausgehoben hattet.«
Blackwell sah ihn an, als glaube er ihm nicht.
»Es ist wahr«, sagte Alejandro. »Ihr habt eine Inschrift hinterlassen: Hier liegen meine zwölf Kinder und meine treue Gattin. Ich weinte vor Kummer ihretwegen und - vielleicht noch mehr - Euretwegen.«
Blackwell blickte zu dem Haus, in dem er jetzt mit seiner neuen Frau und seinen Kindern lebte. Auf seinem Gesicht lag der Ausdruck tiefer Liebe, aber gleichzeitig auch Sehnsucht. Alejandro konnte sich denken, wonach der Mann sich sehnte - nach der Wiederkehr derjenigen, die von ihm gegangen waren. Es war ein Wunsch, der sich niemals erfüllen würde.
»In meinen Träumen«, fuhr Alejandro fort, »sah ich oft, wie Ihr Eure Kinder in das Grab legtet, und dann ihre Mutter, mit ausgebreiteten Armen, um sie zu beschützen. Ich bete für Eure Familie.« In seiner Bewegtheit vergaß er de Chauliacs Warnung. »Ich bin Medicus, und ich sah die Seuche zu viele dahinraffen.«
»Ich danke Euch für Eure Träume, guter Herr«, erwiderte Blackwell, »und ich weiß Eure Gebete zu schätzen. Aber ich muss Euch sagen, dass es nicht auf diese Weise vonstattenging.«
Alejandro begriff nicht. »Wie war es denn?«
»Nun, es war eine sehr seltsame Folge von Ereignissen. Meine Frau starb als Erste - ihr Name war Janet, möge sie in Frieden ruhen. Sie war eine gute Frau.«
»Wie lange dauerte es, wenn Ihr die Frage erlaubt?«
»Ich kann mich nicht genau erinnern. Mein Gedächtnis verweigert mir die Antwort auf diese Frage und auf manche anderen.«
»Auf diese Weise schützt Euch Gott vor schmerzlichen Erinnerungen.«
»Ah«, sagte Blackwell. »Gewiss, das klingt einleuchtend. Ich
erinnere mich, dass Janet an einem Sonntagabend starb - am Morgen waren wir alle zur Kirche gegangen, und jene von uns, die es konnten, empfingen den Leib und das Blut Christi. Ich danke Gott oft dafür, dass Er meiner Familie Seine Gnade zuteilwerden ließ, kurz bevor Er sie zu sich rief. Aber meine Dankbarkeit ist nie von langer Dauer. Dabei zusehen zu müssen, wie alle, die man liebt, im Laufe einer Woche sterben, ist so grausam, dass man es sich nur vorstellen kann, wenn man es selbst erlebt hat.«
Alejandro erinnerte sich an den Tag, an dem Adele gestorben war. Der Schmerz war nahezu unerträglich gewesen. Sie war in seinen Armen gestorben, genau wie die Kinder und die Frau von Thomas Blackwell - dreizehn Seelen, während er nur den Tod einer einzigen mit angesehen hatte. Der Kummer des Mannes musste unermesslich gewesen sein.
»Ihr habt recht, Sir, ich kann es mir nicht vorstellen.«
Dann schwieg er, um Thomas Blackwell Zeit zu lassen, sich wieder zu fassen. Über dessen Wangen liefen Tränen, doch Alejandro glaubte nicht, dass er sich dessen bewusst war, da er keine Anstalten machte, sie wegzuwischen. Er wartete - geduldiger, als er es selbst für möglich gehalten hätte -, bis Blackwell schließlich die Nässe auf seinen Wangen bemerkte und seine Tränen trocknete.
»Ich legte Janet am Ende des Langhauses nieder, bis ich ihr ein anständiges Grab schaufeln konnte«, sagte Blackwell. »Ich musste mich um die Kinder kümmern …«
Vor seinem geistigen Auge sah Alejandro zwölf Kinder, jedes ein bisschen größer als das ihm folgende, nacheinander zu einer Grube laufen. Während Blackwell seine traurige Geschichte erzählte, sah der Medicus, wie ein Kind nach dem anderen seine rosige gesunde Farbe verlor und bleich wurde und wie es in die Grube sprang, wo es sich in grauen Staub auflöste.
»… aber das Grab war Gott sei Dank tief genug, sonst hätten ihre Zehen aus der Erde geragt.«
Die seltsam anmutende Bemerkung brachte Alejandro in die
Gegenwart zurück; er stellte sich vor, wie Adeles Zehen aus der Erde ragten, oder die von Hernandez, ein Riese von einem Mann, der ihm auf so vielfältige
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